Hinter der Mustergrabstelle

Ein heißer Sommerabend, draußen, hell. Die Dächer einer Stadt, eine gerade Asphaltspur. Schnitt. Die Gleise einer S-Bahn-Linie. Den Himmel über alledem kann kein Wässerchen trüben, keine Wolke weit und breit, blau, dunkelblau, vielleicht zu dunkles Blau. Tiefes, dunkles Blau. Schnitt.
Eine lange gerade Straßenflucht, links und rechts Altbauten, grau und trostlos. Früher einfach grau und trostlos, heute grau und hipp und deshalb trostlos. Schnitt. Ein Kind mit einem Buch in der Hand kommt die Straße entlang, überquert ohne nach links oder rechts zu schauen einen Zebrastreifen. Es sieht müde aus. Es hat Sommersprossen, könnte Mädchen wie Junge sein. Es verschwindet in einem Hauseingang.
Dann ist nichts. Das lange Atmen einer vorbeifahrenden S-Bahn, das in der Abendluft verhallt. Stille. Schnitt. Der Himmel ist noch weiter, das dunkle Blau noch tiefer. Ein Auto kommt, der Motor brummt, es fährt vorüber, dann ist es weg. Menschenleere. An den Balkonen der Altbaufassaden hängen keine Blumen, wenn doch, sind sie mickrig.
Ein nicht näher bestimmter Vogel kommt herangeflogen, setzt sich auf den Mauervorsprung eines Balkons, von dem der Putz bröckelt. Er reckt seinen Kopf in die Höhe, streckt den Hals in die Länge und stößt einen heiseren Schrei aus, und als dieser verklungen ist, plustert er sich erst auf, staucht dann seinen kleinen Körper zusammen und kackt.
Unter dem Balkon stehen zwei Männer.
Der Vogelschiss fällt auf einen der beiden, ohne dass sie es bemerken. Dann gehen sie weiter an eine Wand, die dick überrankt ist von Efeu. Schnitt.

Der eine trug Jeans und ein weißes T-Shirt, das leicht über dem Bauch spannte, er war groß, trug das Haar kurz und sein Bart war leicht ergraut. Seine Augen glänzten metallic-grün, von kleinen Krähenfüßen verziert. Er war verschwitzt, sein Shirt hatte Flecken nicht nur unter den Achseln, auch auf dem Rücken, er schwitzte überall. Und er lächelte den anderen an. Der andere war ein wenig kleiner, ein wenig jünger, sein Bart etwas dunkler, er hatte ein enges kariertes Hemd angezogen, weit aufgeknöpft, und trug breite schwarze Lederarmbänder, an jedem Handgelenk eines. Auch ihm rann der Schweiß den Rücken hinunter, und er lächelte zurück.
Dieser andere war ich. Eigentlich hatte ich Sex gesucht, aber nun stand ich da, vorm Friedhof. Um genau zu sein, hinter dem Friedhof.
Wir hatten gechattet, und Johannes hatte gesagt, dass ich mich überraschen lassen sollte, irgendwas draußen, Treffpunkt am S-Bahnhof. Ich dachte wir trieben es im Park, doch stattdessen standen wir am Efeu der rückwärtigen Friedhofsmauer. An jenem Sommerabend war es übrigens nicht nur heiß, sondern auch schwül, sehr schwül, sodass mir der Schweiß den Rücken hinabrann, über den Hintern, die Beine hinunter. Und Johannes erst – er roch. Nach Achselschweiß, nach Speichel – Lust.
„Du kennst den Friedhof?“, fragte er mich.
Der Efeu war ganz groß. Blätter über Blätter, auf denen die Sonne tanzte, sie schimmerten in allen erdenklichen Dunkelgrüntönen, und Johannes trat nah an mich heran. Seine Stimme hatte einen warmen und tiefen Klang:
„Auf diesem Friedhof ist jeder schon gewesen, und viele kommen noch hin.“
Erst hielt er mein Kinn in seinen Händen, dann ließ er eine Hand an meinen Arsch gleiten und zog mich mit sich. Wir drehten uns, verwickelten uns im Efeu, mein Blick fiel noch kurz auf einen Balkon gegenüber, dort stand jemand und sah herüber zu uns, es hätte das Kind sein können, ganz genau war es aber nicht zu erkennen, denn alles verschwand im Efeu.
„Ich will dir was zeigen“, flüsterte Johannes und grinste.
„Darf ich es auspacken?“, fragte ich mit einem Griff an seine Hose.
„Später“, gab er zurück, und dann raunte er mir zu: „Erst will ich dir noch etwas anderes zeigen.“
Seine Zunge umspielte dabei meinen Hals. Sein Kopf roch salzig. Noch nie zuvor hatte ich eine so warme Zunge auf meinem Hals gespürt, und noch nie eine, die so viel Speichel auf mir hinterließ.
„Ich zeige dir mein Grab.“
Ich fand das überflüssig. Wir steckten mitten im Efeu, dies wäre ein guter Ort für Sex gewesen. Niemand hätte uns gesehen, es wurde ja auch dunkel. Und dann kam mir ein beunruhigender Gedanke: „Der Friedhof ist doch schon geschlossen.“
Er grinste wieder. Dabei netzte er seine Lippen mit der Zungenspitze, auf der der letzte Rest an Abendsonne funkelte.
Und plötzlich war es Nacht geworden.

„Und wie kommen wir rein?“, wollte ich wissen. Das Beunruhigende an dem Gedanken, die Friedhofsruhe zu stören, begann sich in der Umarmung mit diesem Mann gänzlich aufzulösen.
„Das ist ein Märchenfriedhof, wie ein jeder weiß“, sagte er und betonte den letzten Halbsatz, als würde er ein Adventsgedicht aufsagen. „Da helfen gute Geister. Es gibt eine Stelle an der Mauer, die liegt so versteckt, dass man sie nur mit ihrer Hilfe findet, und auch das gelingt nicht immer“, fuhr er noch fort. „Gute Geister?“, staunte ich, aber da drückte er schon seinen Schritt fester gegen meinen, und die Geister begannen im Schritt zu pochen, und dann pochte es hin und es pochte her, und dann waren wir drin.
Schnitt. Mondschein auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Die weitausladenden Kronen der Ulmen überdachen ein Stück des langen Mittelwegs hügelab. An den vielen Gräbern vorbei, die Erhabenheit aushauchen, vorüber an alten Familiengruften, von Geschlechtern, die längst den Faden verloren haben. Hier ruhet, steht hier. Tapfer dort, auf immer, ex coelis, so spricht der Herr. Jahreszahlen des Kommens und Gehens, vor langer Zeit, einhundert, zweihundert Jahre fast sind es her. Es war einmal. Der schnurgerade Weg führt ruhig und sanft zum Café am Eingang. Dort gibt es selbstgebackene Kuchen, in Puppenstubenatmosphäre, mit Nippes und Einkehr und Trost und Kaffee aus Sammeltassen. Nicht jetzt, es ist geschlossen, es ist ja Nacht.
Auf den Gräbern herrscht Leben. Zwar schlafen viele Tiere, aber etwas raschelt immer im Gebüsch. Im Sternengarten, wo die Kleinsten liegen, spielen Puppen und Teddys mit Kinderspielzeug. Aber nicht nur dort. Überall. Hier liegen die, die starben, als das Große Sterben umging, als es einen nach dem anderen riss. Der Mond zaubert Regenbogen auf die Grabsteine, auf Inschriften, die von der Liebe zu Irdischem reden, zu sehr Irdischem, auf frische Blumen in Stilettos. Auf Buddhas, auf Kens, auf tibetische Gebetsfähnchen, die unbeweglich in der windstillen Nacht hängen.
Da sind die Gräber der Gebrüder Grimm. Schlicht, da liegt Jacob, dort liegt Wilhelm, weiße Lettern in schwarzem Granit, der unerschütterlich emporragt. Hierher kommen Touristen, machen Fotos und bringen ihre Bücher mit und legen einen Stein ab. Viele Japaner. Nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Da ist das Grab Rio Reisers mit einem Bild von ihm, das ihn sehr jung zeigt, sein Stein erhebt sich aus dem Gras, bevölkert von bunten Figürchen, auch die Krone fehlt nicht. Es sprießen bunte Wiesenblumen, und in denen steckt dezent ein kleines Fläschchen mit etwas zu trinken. Hier gibt es schon mal ihm zu Gedenken Tunten-Defilee und Blaskappelle, man spielt seine Songs, hält Andacht und feiert. Aber nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Der Mond scheint auf all diese Gräber, die historischen und die neuen, bunten, mit Plüsch und Glasmosaiken, die gestylten, die so viele sich kaufen, wo sie sich einkaufen, auch anteilig, auch viele Männer, als ihre Heimstatt für danach.
An einem Seitenweg liegt eine Mustergrabstelle, gepflegt und bepflanzt mit Lobelien und Zauberglöckchen, und auf einem Schild steht zu lesen: „Dies könnte Ihr Grab sein“. Das Mondlicht lässt die Inschrift des Mustergrabsteins leuchten: „Die Sonne scheint allen.“ Bei Interesse bei der Verwaltung melden, aber nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Tiefe Nacht ist es, und von ein paar Grabstätten weiter, von dort hört man es stöhnen. Johannes präsentiert seinen Grabstein, in den der Name „Johannes“ und sein Geburtsdatum graviert sind, nur das Sterbedatum fehlt. Johannes hat sich hinter den anderen gestellt, ihm das karierte Hemd vollends aufgeknöpft, drängt sich immer weiter an ihn, und der Mond wirft ein weiches Licht auf die Männer mit heruntergelassenen Hosen, die auf dem feuchten Gras in weichen Bewegungen zu schweben scheinen, in innigen Bewegungen, in denen Johannes den Mann vor sich Stück um Stück seinem eigenen Grabstein entgegenschiebt.
Die Toten geben keinen Mucks von sich, die Untoten auch nicht, die Tiere halten sich zurück, nur das Stöhnen des Mannes in Johannes’ Arm wird lauter, und der erdige Geruch, der aufsteigt, erregt. Johannes lässt seine Fingerspitzen tänzeln, über das Brusthaar, den Bauch, in ein krauses Büschel Schamhaare.
„Gib mir dein Bestes“, flüstert er dem andern zu und greift mit seinen schweißnassen Fingern dessen Schwanz.
Schnitt.
Das hat er tatsächlich gesagt, das mit dem Besten. Mehrfach, während dieser bitter-salzige Geruch von Schweiß und Erde in meine Nase eindrang, und sich mir auf den Gaumen legte und er mir einen runterholte. Dein Bestes. Ich habe genau hingesehen, es war ja eine sternklare Nacht, und der Mond schien hell. Die Sterne hielten einfach nicht still, ständig funkelte und flackerte einer, sie verbreiteten Unruhe, wenn man genau hinsah. Sternschnuppen schossen ins Leere, denn das dort oben war weit, und selbst wenn man den Kopf noch so weit drehte und meinte, mit seinem Blick Lichtjahre abzumessen, so ließ man sich täuschen. Der Himmel war nicht zu erfassen, die Augen als Sehorgan reichten nicht aus. Immer kamen neue Sterne hinzu, einer hinter dem anderen, wo ein dunkler Fleck gewesen zu sein schien, sprenkelte es neues Licht, was meine Orientierung aussetzen ließ, denn nach Großem und Kleinem Wagen, Polarstern und Kassiopeia hatte ich mich verirrt. Wenn man dort hinaufspringen könnte, käme man niemals zurück aus der Endlosigkeit, weil es immer nur vorwärts ginge.
In mir aber verkrampfte es sich für ein paar Augenblicke, und plötzlich stieß ein dichter, dicker Schwall hervor, dann noch einer.
Mein Bestes. Ich hinterließ ihm einen riesigen Fleck auf seinem Stein, genau dort, wo noch Platz für das Sterbedatum war. Der Geruch des Sekrets stach den Erdgeruch aus. Johannes verlor keine Zeit, sank auf die Knie, wobei er einen leichten Krampf in der Wade hatte, und das Bein kurz ausschütteln musste – und während im Sternenschein der schleimige Fleck begann, zäh am Granit herabzurinnen, streckte er seine feuchtglänzende Zunge langsam danach aus.


Mein schwules Auge Berlin Gay Metropolis Special, konkursbuch Verlag, Tübingen 2019

Rönum

O‘Connell Press, Weingarten 2015

Abreisetag

Der Polizeibeamte lächelte. Aber es war ein kaltes Lächeln, pflichtbewusst, und auch seine Stimme war, als er meine Personalien vorlas, automatisch. Ganz klar, er wollte es schnell hinter sich bringen und von hier fort.

„Name: Brigitte Sand.

Alter: fünfunddreißig Jahre.

Beruf: kaufmännische Angestellte. 

Familienstand: ledig.

Zur Zeit wohnhaft: Ferienpension „Haus Ebbe und Flut“, Rönum.“

Das Ganze trug die Überschrift „Protokoll“. Und auch wenn ich diese wenige Tatsachen über mich schon wusste, gaben sie mir doch etwas Halt, als er mich bat, alles noch einmal zu erzählen, viel sei es ja nicht, er würde gleich mitschreiben.

Es war also nicht viel, wie beruhigend, dazu passte jedenfalls, dass die Polizisten mit der regulären Fähre vom Festland herübergekommen waren. Ich hatte mir ihren Aufmarsch spektakulärer vorgestellt, aber so war es wohl am kostengünstigsten.

Sie brachten ihr gesamtes Team mit, alle Gerätschaften, Absperrband, als wenn es einen Menschenauflauf zu verhindern gegolten hätte auf Rönum, ich fand das maßlos übertrieben, aber ich bin wahrscheinlich die Letzte, die noch zu einer nüchternen Betrachtung fähig ist, Fotoapparate, die altertümliche Schreibmaschine, sogar das Papier. Mich hätte nicht gewundert, wenn sie sogar ein Ersatzfarbband dabei gehabt hätten. Und natürlich den Sack für die Leiche.

So kamen sie mit den letzten Feriengästen der Saison herüber, und so fuhren sie auch wieder zurück. Nur dass da der Sack voll war.

Das ist vielleicht eine merkwürdige Formulierung, aber ich stehe wohl noch unter Schock, womit ich keinesfalls entschuldigen will, dass ich vielleicht pietätlos klinge, vielmehr möchte ich betonen, dass es nun einmal das erste Mal war, dass ich auf einem Strandspaziergang eine Leiche gefunden habe, obwohl ich schon viele Strandspaziergänge gemacht habe in meinem Leben. 

Jedenfalls nahmen sie meine Aussage im Frühstückszimmer der kleinen Pension zu Protokoll. Die alte Wirtin brachte Kaffee und murmelte dabei: „Ach, meine Güte, meine Güte“, und „Die arme Kleine“. 

Damit meinte sie mich.

Der Polizist nahm einen Schluck und sah mich dann erwartungsvoll an. 

Währenddessen war es im Zimmer still, fünf stumme Tische standen da, mit beigefarbenen Tischdecken, auf denen geblümte Salz- und Pfefferstreuer standen, und zu hören waren nur die gleichmäßigen Anschläge auf der Schreibmaschine sowie das Ticken der alten Wanduhr.

Die hatte schon immer da gehangen und schon immer so getickt, tick, tack, tick, tack. Als Kind hatte ich mich bei diesem Klang behaglich gefühlt, aber heute Vormittag, dem steifen Polizeibeamten gegenüber, trieb es mich in den Wahnsinn. Die Zeit verging nicht. Sie stand. 

Dann begann ich zu erzählen, und er begann zu tippen, nur mit den beiden Zeigefingern tippte er.

Nur selten stellte er eine Frage, ich antwortete, er tippte weiter. Langsam, rhythmisch. Dieses dumpfe Tippen verbreitete sich im ganzen Raum, und selbst wenn es zwischendurch aussetzte, weil der Polizeibeamte einen Buchstaben suchte, so setzte es anschließend um so durchdringender wieder ein. Erst gab es einfach einen Tackt vor, dem sich die wirren Bilder in meinem Kopf unterordneten, so dass die Erinnerungen eine nach der anderen, ordentlich hervorkrochen. Dann folgte sogar meine Sprache dem Rhythmus der Anschläge auf dem Farbband, bis ich sogar das Gefühl bekam, ich würde Wort für Wort nacherzählen, was er gerade zuvor aufschrieb.

Und selbst wenn ich kurz schwieg und überlegte, hörte das Tippen nicht auf. Dann war mir, als wenn es wie ein stetiges Wassertropfen auf meinen Schädel prallte. Und ihn irgendwann durchdrang.

Wir saßen an dem Tisch direkt am Fenster, an dem ich am Morgen noch gefrühstückt hatte, starken Kaffee, zwei Brötchen, eines mit geschmacklosem löchrigem Käse, das andere mit Erdbeermarmelade, dazu ein weichgekochtes Ei. Der Beamte hatte den Salzstreuer links, den Pfefferstreuer rechts von seinem Schreibungetüm aufgestellt, wie Schutzengel, schoss es mir durch den Kopf, welch ein Unsinn, und ich sah durch das Fenster über den kleinen Garten auf den Deich, über dem weiße Schäfchenwolken am Himmel grasten, als wäre nichts passiert.

Irgendwann fiel mir auf, dass es noch ein Geräusch gab: die Atemzüge des alten Mannes, der bewegungslos an einem Tisch in der Ecke saß. 

Es war der Mann der Wirtin, oder so. Zumindest war er bei meinem letzten Aufenthalt hier vor dreißig Jahren plötzlich da gewesen, und meine Eltern, die ich gleich nach meiner Ankunft in der Pension angerufen hatte, konnten sich noch lebhaft an ihn erinnern, was ich dem missbilligenden Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung entnahm, als ich ihnen von den Wirtsleuten erzählte. Sie waren sowieso dagegen gewesen, dass ich auf ein paar Tage hierher fuhr. Natürlich war auch das ganz und gar unausgesprochen.

Was nun den alten Mann anbelangt, fand ich nur merkwürdig, dass der Polizist ihn nicht hinausschickte. Im Grunde hatte ich das Gefühl, dass er ihn gar nicht bemerkte, was trotz seiner stattlichen Größe von knapp zwei Metern und seiner breiten Schultern nicht weiter verwunderlich war, denn er war stets unauffällig grau gekleidet und seine Haut schien sich der Farbe der Umgebung anzugleichen. Ging er tags auf dem Deich, schimmerte sie wässrig blau wie der Himmel, jetzt wässrig beige wie der Tisch, an dem er saß, immer wässrig, und am Strand wäre ich neulich fast gegen ihn gelaufen, so sehr hatte der Sand durch ihn durchgeschimmert. Nur nachts, da hatte ich ihn einmal im Garten gesehen, da blinkten seine Augen, im Takt wie dieses Leuchtturmsignal in der Ferne, nur dass seine Augen ganz nah waren.

Rot leuchteten seine Augen. Fand ich. Und quollen ein wenig hervor, fast wie bei einer Echse.

Am Strand hatte ich als Kind stundenlang mit Plastikschaufeln im Sand gebuddelt, bis von unten Wasser in die Löcher im Sand aufstieg. Die Quallen mit bloßen Händen aufzusammeln und sie aufeinanderzulegen wie bunt schillernden Wackelpudding, hatte mir unendlichen Spaß gemacht. Natürlich hatte ich mich damals auch ab und zu an ihren Nesseln verbrannt und dann geheult. Aber die Freude daran, diese glibberigen Massen aufgeschichtet zu sehen, rot, gelb und blau glänzend, überwog.

Wirklich traurig wurde ich als Kind nur, wenn die Sonne sie auszutrocknen begann und sie schrumpften und ineinander versanken und sich auflösten.

Dass sie dabei starben, wusste ich nicht. Ebenso wenig wie es mir klar gewesen war, dass sie zuvor gelebt hatten. Obwohl meine Eltern es mir immer wieder erklärten, waren die Quallen für mich keine Tiere gewesen. Anders als die Seepferdchen. Wenn ich ein totes Seepferdchen am Strand fand, musste ich weinen, und zwar noch bitterlicher, als wenn die schönen Quallenberge in der Sonne vergingen.

In diese Wärme, die der Sand selbst an Schlechtwettertagen ausstrahlte, hätte ich mich am liebsten eingegraben. Im Grunde habe ich mich immer danach zurückgesehnt. Ich erinnere mich, wie ich in den ersten Jahren nach unserem letzten Besuch dort meine Eltern fragte, wann wir wieder auf die Insel fahren würden.

Die Antwort war eisiges Schweigen. Nur einmal hieß es, wir mögen es da nicht mehr. Selbst den Namen Rönum nahmen sie nicht mehr in den Mund.

Aber ich habe sie Insel nicht vergessen können.

Doch das hätte ich besser getan.

Auf die Leiche stieß ich heute morgen gleich nach dem Frühstück. Bis dahin hatte ich eine Woche lang auf meinen Spaziergängen dem sanfte Wellenrauschen gelauscht und morgens bei Ebbe wie ein kleines Kind neugierig nachgeschaut, was die nächtliche Flut an Land gespült hatte.  

Jede Muschel hatte ich hochgehoben und darunter wer weiß was für Wunder vermutet, zahllose glänzende Kieselsteine ins Wasser zurückgeworfen und mich diebisch gefreut, wie sie dort untergingen. Und wenn nachmittags die Flut zurückkehrte, hatte ich mich wie gebannt über meine eignen Fußabdrücke im Sand gebeugt und zugesehen, wie das Wasser aus der Tiefe in das Negativ meiner Zehen und Fersen stieg und sie langsam verschlang.

Eine Woche, in der ich mich auf meinen Wanderungen am Wasser aber auch fragte, warum meine Eltern Rönum totschwiegen. Diese Insel war so voll von Erinnerungen für mich gewesen, doch immer wenn ich davon reden wollte, legte meine Mutter den Finger auf ihre gespitzten Lippen, schloss die Augen und machte „Scht“. Bis ich es mir abgewöhnt hatte. Als braves Mädchen dachte ich, dass sie mich vor irgendetwas bewahren wollten. Aber wovor wollen Eltern einen eigentlich bewahren?

Hier gab es nichts, was gefährlich wirkte oder auch nur unheimlich. Auch nicht heute früh. Ich ging über den Deich, durch die Dünen, den Strand entlang, sah die gleißende Morgensonne auf den Wellen und auf dem feuchten Sand tänzeln und hielt Ausschau nach meinen Muscheln und Steinen, als ich die angespülte Schaufensterpuppe sah. Sie lag ordentlich auf dem Rücken, die Kleidung war nass aber makellos. Erst als ich näherkam und sah, dass Hände und Gesicht aufgedunsen waren, merkte ich, dass ich dabei war, in einem Alptraum zu versinken. 

Rönskoog, 27. August, 00.57 Uhr

Rodacher hörte einen Schrei, riss die Augen auf – und starrte in die Dunkelheit. Sie war mit einem dicken Pinsel gezogen, ohne Abstufungen oder Grautöne, einfach tiefschwarz und schwer. Obwohl die rote Digitalanzeige des Radioweckers durchs Schlafzimmer schimmern müsste und obwohl er die Vorhänge extra offen gelassen hatte, damit das Signal vom Leuchtturm herein schiene, alle fünfzehn Sekunden, war es einfach nur dunkel. Undurchdringlich.

Rodacher zählte, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Sein Herz pochte, und sein Atem raste. Er spürte ein Pochen in seinem Kopf. Siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig. Im Schlaf hatte er diesen tiefen Schrei gehört und nun war er hellwach, starrte in absolutes Dunkel, hatte seinen Atem nicht unter Kontrolle und der trieb seinen Herzschlag vor sich her. Schweiß rann ihm von der Stirn. Zweiunddreißig, dreiunddreißig. Wieder pochte es zwischen den Schläfen, das war das Grausen.

Jetzt war kein Schrei mehr zu hören, überhaupt nichts hörte er, genauso wenig wie er etwas sah. Noch zwei Sekunden bis zum Leuchtsignal. Vierunddreißig, fünfunddreißig – nichts.

Finsternis.

Er keuchte flach. Und zählte weiter, doch das Signal blieb aus. Die Hände zu Fäusten verkrampft, die Fingernägel in die Handflächen verbohrt, erstarrte nun sein Gesicht. Kiefer und Wangen brannten. Die Luft wurde dick. Zwei Dinge gingen ihm noch auf: so schweißgebadet war er, dass sein Pyjama ihm auf der Haut klebte, und – er lag nicht in seinem eigenen Bett. Es gab keinen Zweifel, Rodacher lag überhaupt nicht. Er stand.

Rodacher japste und röchelte, unfähig sich zu rühren.

Dann zerriss ihn der zweite Schrei, tief und stumpf wie der erste, ein quälender Laut und jetzt war es ganz sicher: der Schrei kam aus Rodachers eigener Brust. Als wenn ich im Traum schreie, aber es ist kein Traum, schoss es ihm noch durch den Kopf, als es plötzlich über ihn hereinstürzte. Von allen Seiten langte es gleichzeitig nach ihm, schwer, staubig, kratzte ihn, umklammerte ihn, legte sich ihm aufs Gesicht, auf Mund und Nase, raubte ihm den Atem, schlang sich ihm zwischen Beine und Arme. Stoffbahnen, von allen Seiten, grobe, feine, glatte, raue, alle drohten ihn zu fesseln und zu ersticken. Rodacher wankte, stolperte nach rückwärts gegen eine Wand. Und dann platzten die Schreie unkontrollierbar aus ihm hervor mit einer Wucht, die ihm beinah die Lunge zerriss. 

Wild schlug er um sich, verfing sich in Jackenärmeln, Hosenbeinen und Krawatten. Etwas Spitzes stach ihm ins Auge. Vor Schmerz jaulte er auf. Er wollte sich mit dem Gewicht seines Körpers zu den Seiten hin werfen, aber schon steckte er fest in all diesen Stoffmassen, nur noch den Kopf konnte er bewegen. Sein Herz raste. Es gab nur einen Ausweg: Er schlug den Kopf nach vorn. Hämmerte ihn gegen die Wand, hoffte, dass es dir Tür war. Er musste aus dem Kleiderschrank raus, sofort, bevor ihm das Herz aus dem Brustkorb sprang. Mit einem letzten Ächzen prellte er seinen Schädel noch einmal gegen die Schranktür, so dass sie endlich aufsprang, und fiel mit Mänteln, Hosen und Kleiderbügeln krachend auf den Holzfußboden.

Regungslos lag er da, während der Aufprall zwischen seinen Schläfen nachhallte. Ihm war schwindlig und er konnte nicht ausmachen, ob ihm wirklich schwarz vor Augen war oder ob er die Lider geschlossen hielt. Der Schmerz war zu stark.

Schließlich drehte Rodacher sich auf den Rücken und sah einen roten Schimmer durch die Luft wabern, er erkannte die Umrisse des Betts, des Nachtschranks, des Radioweckers darauf und des Glases mit Leitungswasser, das er sich wie jeden Abend dorthin gestellt hatte. Dann wurde sein Atem ruhiger. 

Irgendwann sah er das Zimmer ins weiße Licht vom Leuchtturm getaucht, dreimal nacheinander, für je eine Sekunde. Er schaffte es aufzustehen, trotz des Hämmerns in seinem Kopf und des stechenden Schmerzes in seinem linken Auge. Rodacher sah seine zerwühlte Bettdecke und trat ans Fenster: nichts, nur dichter Nebel, der an der Scheibe klebte. Nach fünfzehn Sekunden kam wieder das weiße Leuchtturmsignal, schwächer als gewöhnlich, fand er, der Nebel dort draußen fraß die Welt auf.

Es war zum wahnsinnig werden.

Seit sechsunddreißig Jahren war er nicht mehr im Kleiderschrank aufgewacht, seit seinem neunten Geburtstag, um genau zu sein. Und jetzt fing alles wieder an.

Der Nebel rann in schweren Tropfen von der Scheibe herab. Diese Glasscheibe gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, doch wusste er, dies war nichts als kindliche Illusion. Er sah sein Gesicht gespiegelt, nicht auf dem Fensterglas, auf den herab rinnenden Tropfen. Rodacher als kleiner Junge, mit Tränen in den Augen weinte er sich selber zu. Dieses Kaff, wenn er nicht aufpasste, würde er wahnsinnig in diesem gottverdammten Kaff. Er legte sich ins Bett und fing sofort zu zittern an. Krämpfe schüttelten seinen Körper und ihm war kalt. Außerdem bemerkte er, dass seine Kehle ausgetrocknet war und brannte.

Mit Mühe griff er zum Wasserglas, es war fast leer. Er musste daraus getrunken haben, bevor er zu schlafwandeln begonnen hatte, ohne dass er sich daran erinnern konnte. Nur noch ein kleiner Schluck war darin, den er mit zitternden Händen zum Mund führte. Gierig trank er – und spuckte das Wasser sofort wieder aus. Es schmeckte ekelhaft. Er konnte nicht sagen, ob bitter oder nach Mineralien oder einfach abgestanden. Das war ja auch kein Wunder, so wie es ihm ging in dieser Nacht!

Rodacher stellte das leere Glas auf den Nachtschrank zurück, drehte sich und legte sich noch eine Zeit lang mit der Zunge diesen widerlichen Geschmack vom pelzigen Gaumen. Allmählich gewöhnte er sich daran. Es beruhigte ihn sogar. Und mit dem verschwommenen Gedanken, dass er diesen Geschmack heute schon einmal in seinem Mund hatte, schlief er ein.

Rönskoog, 27. August, 00.58 Uhr

Das Telefon riss Maria Feinworth aus dem Schlaf. Sie langte durchs Dunkel nach dem neuen batteriebetriebenen Wecker auf dem Nachtschrank. Ihre Hand war schwer, die Finger steif, im Grunde schlief sie noch. Mühevoll zog sie dieses Plastikgerät vor ihre Augen und versuchte, den Knopf für die Zifferblattbeleuchtung zu ertasten. Es war ein billiges Teil, eine Notlösung, die sie sich vorgestern auf dem Heimweg vom Büro bei Grawens besorgt hatte, weil ihr Aufziehwecker über Nacht stehen geblieben war. 

Und er hatte sich nicht mehr aufziehen lassen, dabei hatte sie alles versucht.

Das Telefon klingelte noch immer.

Glücklicherweise hatte sie nicht verschlafen, vorgestern. Sie wachte ja immer um sechs Uhr auf, mehr als rechtzeitig, noch bevor der Wecker losging, ihre innere Uhr war da völlig im Lot. Kurz hatte sie deswegen sogar mit dem Gedanken gespielt, sich gar keinen neuen Wecker zu kaufen, hatte es für eine überflüssige Geldausgabe gehalten. Aber das war natürlich verrückt. Man brauchte ja einen Wecker.

Sie drückte verschiede Knöpfe des quadratischen Teils in ihrer Hand, aber das Licht ging nicht an. Entweder fand sie nicht den richtigen oder er war schon kaputt. Schließlich ging das Teil auch schon vor, um zwei Minuten. Drei neunundneunzig hatte er gekostet, natürlich ohne Batterien, die waren fast teurer gewesen, wahrscheinlich aus Fernost.

Maria Feinworth seufzte leise und stellte das Ding auf den Nachtschrank zurück. Sie wusste eh, wie spät es war, ihre schweren Glieder verrieten es ihr: Es war mitten in der Nacht. Und sie wusste auch, wer sie um diese Zeit anrief, und dass das Telefon so schnell nicht aufhören würde zu klingeln, dass es überhaupt nicht aufhören würde zu klingeln.

Sie seufzte noch einmal, stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln und zog den Morgenmantel an, den sie am Abend über den Stuhl vor dem alten Schminktisch gelegt hatte. Dann nahm sie noch rasch einen Schluck Wasser aus dem Glas, das sie immer auf ihrem Nachtschrank stehen hatte, Rönskooger Leitungswasser, mild und weich, es schmeckte immer noch so wie in ihrer Kindheit; und das war der Grund, weshalb sie es am Bett stehen hatte: wachte sie nachts aus einem dunklen Traum auf, tröstete sie schon ein kleiner Schluck.

Doch jetzt war für Trost nicht die Zeit, das Telefon rief nach ihr, und langsam ging sie in den Flur. 

Licht zu machen, war nicht nötig, denn durch die Glasscheibe der Haustür schimmerte es milchig weiß von der Hausnummernbeleuchtung, die sie jeden Abend einschaltete. Und die altrosa Stores zog sie im Sommer nicht zu.

Draußen hing dichter Nebel. Sie nahm den Hörer ab.

„Feinworth“, sagte sie förmlich.

„Habe ich dich geweckt?“, fragte eine aufgeregte Frauenstimme, die eindeutig ihrer Schwester gehörte.

„Sandra?“

Überflüssig, dachte Maria Feinworth – und ließ den Blick durch das Glas in der Tür hinaus gleiten. Doch konnte sie nicht einmal die Eibenhecke erkennen, so dicht war der Nebel. Und ihr war so kühl. Ging es denn schon wieder auf Ende August?

Sandra schwieg störrisch, bis Maria Feinworth ihre Frage endlich beantwortete:

„Ja, du hast mich geweckt.“

„Ich konnte nicht schlafen.“ 

Sandras Stimme zitterte und sie sprach leise, als wolle sie eben dieses Zittern verbergen: „Ich hab ihn gesehen.“

„Papa?“ 

„Ja.“

„Wo?“

„Regnet es denn bei euch nicht?“

Diesmal war es Maria Feinworth, die störrisch schwieg. Denn natürlich regnete es nicht, nirgends, weder hier an der Küste noch in der Stadt. Seit Wochen nicht. Die Frauen schwiegen, und Maria Feinworth hörte ein unruhiges Atmen aus der Leitung, während sie dem fahlen Licht hinterher sah, das durch die Haustür hereinfiel, ihre roten Pantoffeln streifte und sich am Ende des engen Flurs, wo die Türen zum Bad und zu ihrem kleinen Schlafzimmer abgehen mussten, im Dunkel verlor. 

Ein Bungalow aus den Siebzigern, quadratisch, den die Eltern damals gebaut hatten, um ihn an Fremde zu vermieten, und in dem sie kaum etwas verändert hatte in den dreißig Jahren, die sie ihn bewohnte. Neue Heizkörper hatte sie einbauen lassen vor fünfzehn Jahren, eine neue Küchenzeile vor sieben oder acht, ein Jahr nach dem neuen Kleiderschrank, und die Gardinen hatte sie mit den Jahren ausgewechselt, auch diese altrosa Stores an der Tür. 

Im Carport um die Ecke stand ihr alter dunkelblauer Ford Fiesta und an dem hintersten Tragebalken hingen noch immer die große grüne Gießkanne aus ihrer Kindheit und das aus Muscheln zusammengeklebte Bild des Leuchtturms, sie sah es jeden Tag beim Ein- und Ausparken. Ihr Vater hatte es selbst geklebt: ein Muschelsammelsurium voller Wölbungen und Rundungen, das den Rönskooger Leuchtturm dennoch zeigte, wie er war – streng und kantig.

Sie wusste, dass sie Sandra Zeit lassen musste. Sie musste einfach warten und die beunruhigenden Geräusche aus der Leitung aushalten.

Die Pantoffeln waren aus Kunstseide, mit Perlen bestickt, ein Mitbringsel von ihrem Urlaub in Marokko, taugten im Grunde nur für den Hochsommer. Abwechselnd zog sie Ihre frierenden Füße heraus und rieb sie am Knöchel des anderen. Der Lack des linken großen Zehs blätterte ab. Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gegangen, aber das ging nun erst einmal nicht mehr. Schließlich hörte sie den Atem ihrer Schwester schneller werden. Und Wortfetzen, die darin untergingen.

„Sandra?“

„Es regnet lautlos hier“, war das Flüstern endlich zu verstehen, „Weißt du, Maria?“

„Ja.“

„Wenn die Tropfen nicht von oben herabfallen sondern dicht in der Luft hängen, aber so fein und so leicht, dass sie einfach nicht runterfallen, aber sie verkleben dir trotzdem das Haar und die Jacke. Weißt du, Maria?“

„Ja.“

„Wie wenn es weiß ist in der Luft, so dicht regnet es, aber ohne zu regnen, und man sieht nichts, und man weiß nicht, was gleich auf einen zukommt. Wie früher auf der Wiese. Weißt du?“ Und dann brach Sandra ab, und ihr Atem rasselte und schließlich fuhr sie fort: „Er steht auf dem Balkon.“

Es klang wie gehaucht, und nun hörte Maria Geräusche, die dem Weinen eines kleinen Mädchens glichen.

„Bitte, Sandra, du darfst jetzt keine Angst haben“, sagte sie so entschieden, wie es ihr zu dieser nachtschlafenden Zeit möglich war. „Nicht jetzt. Das ist alles mehr als dreißig Jahre her, reiß dich also bitte zusammen!“

„Behandle mich nicht wie ein zurückgebliebenes kleines Balg!“ Sandras Stimme überschlug sich. „Ich habe es satt von dir belehrt zu werden, verstehst du? Satt, wie du dich für etwas Besseres hältst, satt, wie du mich von oben herab behandelst, satt, wie du mit mir redest, als wenn ich eine Schraube locker hätte. Satt, satt, satt!. Lass das endlich blieben.“

„Gut, es ist ja schon gut.“

Sandra weinte, aber wenigstens klang sie jetzt wie eine Erwachsene.

„Gar nichts ist gut, überhaupt gar nichts. Außerdem hast du gut reden. Papa steht ja nicht vor deiner Tür.“

Es ging also wieder auf Ende August.

Maria Feinworth ließ den Blick langsam aus der Dunkelheit den langen Flur entlang zurückgleiten, zentimeterweise, zur Haustür, an deren Glas die Nebeltropfen herabglitten, lautlos wie stiller Regen. Dahinter nichts als dicke Schwaden. Auch dieses Glas hatte sie nicht verändert in den dreißig Jahren, die sie jetzt hier wohnte, obwohl sie es manches Mal auswechseln wollte gegen Milchglas oder Butzen, die weniger einsichtig wären. Aber dann hatte sie es doch stets so gelassen, und mittlerweile war die Eibenhecke mannshoch gewachsen und keiner der Nachbarn konnte sie sehen.

„Siehst du Papa jetzt?“

„Nein.“

Maria Feinworth spürte sich aufatmen.

„Nein, Maria, nein, nein, nein! Komm mir jetzt nicht mir deiner Logik. Ich hab mich im Bad eingeschlossen. Aber eben stand er noch vor der Balkontür und da steht er immer noch, das weißt du doch, Maria, das weißt du!“ Ihre Stimme wurde schrill und laut. „Er steht auf dem Balkon, und deswegen bin ich ins Bad gelaufen und habe mich eingeschlossen!“

Maria Feinworth versuchte es noch einmal so ruhig und bestimmt wie möglich: „Es kann überhaupt niemand auf deinem Balkon stehen, Sandra. Weil ganz einfach niemand dort hinaufkommen kann. Du wohnst im vierten Stock!“

Kurz herrschte in der Leitung Stille. Dann war wieder der bedrohlich schneller werdende Atem zu hören, ein abgehacktes Schnaufen, das in immer schnellerem Rhythmus zu ihr in die Nacht drang. Und immer höher wurden die Töne, die ihre Schwester dazu aus sich herauspresste, bis sie erschöpft zu dumpfem Lachen explodierten. Ein ohrenbetäubender Laut, der abklang und schwächer wiederkam und abklang und noch schwächer wiederkam. Wellenschlag auf dunkler See, der an Maria Feinworths Ohr schwappte, während sie die Tautropfen fixierte, die an der Tür herabperlten. Bis es verebbt war. War das Gelächter wirklich verstummt? 

Maria Feinworth horchte angestrengt in den Hörer: die Leitung war tot.

Oder so

Knapp achtundvierzig Stunden nach der Katastrophe. Die Pressekonferenz des Staatsanwalts in Marseille steht noch bevor. Ich sitze zu Hause. 

Wenn etwas Unfassbares geschehen ist, tun wir manchmal, was uns von Kindheit an vertraut ist. Deshalb höre ich Radio, sehe nicht fern, lese keine Zeitung, sondern verfolge alles nur im Radio.

Das Radio berichtet ununterbrochen. Es repetiert die wenigen gesicherten Fakten und dann, in einer nicht abebbenden Welle, jede Mutmaßung, die es nur gibt. Ob sie Sinn macht oder nicht. Und es sendet Stimmen, erregte Stimmen, betroffene Stimmen, erschütterte. Es holt ganz weit aus, geht ganz nah ran, fängt alle ein und schiebt sie in mein Zimmer. In meine Ohren. Das Fürchterliche, vor zwei Tagen am Südrand der Alpen geschehen, hat im Radio noch lange nicht aufgehört und ereignet sich dort immer wieder. Ich kann es kaum noch aushalten.

Aber ich kann es auch nicht ausschalten.

Genauer gesagt: Ich schaffe es nicht, die Beschallung länger als drei Minuten ausgeschaltet zu lassen. Denn kaum verstummen die, die etwas gesehen haben, die meinen, sie wüssten etwas, die behaupten, sie hätten sich Gedanken gemacht, die nicht endenden Beschreibungen, die zahllosen Geräusche, kaum dass endlich Lautlosigkeit in meinen vier Wänden herrscht, die vom Ort des nicht Fassbaren weit entfernt sind, kommen die Dämonen heran: meine eigenen Bilder. Und die auszuhalten, ist noch schwieriger.

Nach fast zwanzig Jahren als Flugbegleiter, kenne ich diesen Flugzeugtyp in und auswendig. Ich weiß, wie es darinnen aussieht. Ich meinte, alles dort gesehen zu haben. Meinte ich. Aber diese Bilder sind neu, die Abbilder dessen, worüber sie reden, und das was mein Kopf daraus macht.

Das ist mein Arbeitsplatz, dort bin ich tagaus, tagein, wie man so sagt.

Doch was man so sagt, versagt gerade seinen Sinn. Deswegen versuche ich zu fliehen, wo Flucht doch unmöglich ist. Hinaus unter einen weiten Himmel, vorbei an Flaggen auf Halbmast am Rathaus, hinein ins anonyme Getriebe eines Cafés.

Tassen klirren, die Kaffeemaschine brummt auf Hochtouren, Stimmen raunen durcheinander. Ich bestelle einen Espresso, lehne mich wartend an den Tresen und höre Fetzen der Unterhaltung neben mir.

„Ich bin der festen Überzeugung…“, sagt einer.

„Da kann mir einer sagen, was er will…“, ein anderer.

Und die Satzenden füllen sie aus mit den unzähligen Variationen dessen, was sie seit Tagen hören. Ebenso wenig wie ich waren sie dabei, ebenso wenig wie ich kennen sie jemanden, der dabei war. Scheinbar wollen sie hier, mit Croissants in der Hand, das was noch unklar ist, dingfest machen. Aber sicher bin ich mir da nicht. Spüre nur wieder eine innere Unruhe. Ein Gedanke taucht auf. Ihr, denke ich, werdet in drei oder vier Wochen alles wieder vergessen haben.

„Anders kann ich mir das nicht vorstellen“, sagt wieder der eine.

„Einen Notruf abgesetzt hätte man doch. Mayday, Mayday“, wieder der andere. Er schüttelt den Kopf, zückt sein Portemonnaie aus der Jackentasche, und dann fügt er noch etwas hinzu: „Oder so. Zahlen bitte!“

„Drei Euro zwanzig.“

Und er reicht eine Fünf-Euro-Note über den Tresen, deutlich zu sehen ist die graue, antike Brücke. Oder das Aquädukt. Oder so.

Ich nehme meine Tasse und setze mich auf einen Barhocker am Fenster.

„Notruf“ ist eines der strapazierten Worte dieser Tage, immer wieder im Wortlaut, oder so, kolportiert, obwohl es ihn gar nicht gegeben hat; wie auch die Binsenweisheit, dass Spekulationen sich verbieten. Eine nutzlose Ermahnung, da niemand sich das Spekulieren versagt, obwohl so viele es sich verbitten. Doch zu bitten reicht nicht. Der Trieb, seinen eigenen Gedanken Ausdruck zu verleihen, kennt kein Pardon. Dieser Trieb rattert, lässt sprechen, projiziert Bilder in die Hirnrinden. Und er wird gnadenlos forciert.

Um sich das Unvorstellbare vorzustellen.

Und da liegt mein Problem:

Dies ist mein Arbeitsplatz, tagaus, tagein. 

Kann ich mir vorstellen, wie es aussah?

Ich stelle es mir bereits vor.

Kann ich mir vorstellen, was zu hören war?

Ich kämpfe zwar dagegen an, aber – ja.

Was zu riechen war?

Ich habe den Geruch in der Nase.

Meine Sinne sind dort und werden wieder dort sein. 

Ich kann nicht einfach zahlen und meiner Wege gehen, um es hinter mir zu lassen, nicht einfach das Radio ausschalten oder den Fernsehsender wechseln. Dafür war ich zu oft dort, und ich muss wieder dorthin.

Ich trinke den Kaffee und ziehe einen Fünfer hervor. Der einzige Geldschein, der zeigt, wohin die Brücke auf seiner Rückseite führt: in eine Hügellandschaft. Hoffentlich herrscht dort Stille. 


erschienen im April 2015 in der Online-Plattform krautreporter

Moose Town Trip

Glacier View Hotel

Das Licht hatte er gelöscht, hörte die Vorhänge flattern. Kühle Nachtluft glitt durchs Fenster, auf Schreibtisch, Stuhl und Schrank, alles alt und billig. Er saß angezogen auf dem Bett, sah über die Schuhspitzen hinweg zum Spalt unter der Tür. Licht schimmerte vom Flur herein. Einem langen Flur. Am hintersten Ende war das Zimmer 13. Und das Geräusch: Es gluckste.

***

 

Moose Creek County, Alaska, 1. August, 00:02 h

Gregg warf den Kopf herum und riss die Augen auf. Ein Äderchen platzte. Nichts war zu hören als sein keuchender Atem, er hatte ihn nicht unter Kontrolle. Er kurbelte das Seitenfenster seines alten Dodge Pickups herunter und streckte den Kopf hinaus. Doch da gab es nur noch Totenstille. Und sanftes Mondlicht. Sich beruhigen, runterzählen. Er setzte sich gerade und presste den Rücken in den Sitz: zehn, neun, acht … Er spürte den Zündschlüssel in der durchgefrorenen Hand. Sieben, sechs … den ganzen gottverdammten Highway war er hierher gefahren, bis an die Kurve am Gletscher. War ausgestiegen, über knirschende Kiesel zu den Farnen gegangen, wo das Schmelzwasser von der Gletscherkante in den Bach tropfte und den Creek speiste. Anfangs sah er sie nicht, fror nur in der Kälte, die der Gletscher selbst im Hochsommer ausstrahlte. Erst als der Mond rauskam, schauderte er: die Tropfen, prall, voll. Er beugte sich vor zu einem von ihnen. Da war etwas. Er sah genau hin. Sein Spiegelbild, verzerrt, doch gut zu erkennen: Seitenscheitel, glattrasiert, blass. Zu Dutzenden hingen Schmelzwassertropfen an der Eiskante und in allen sah er sich nun. Wie im Spiegelkabinett, in dem er als Kind gewesen war, nur kleiner. Man musste nah rangehen, um sie zu sehen, ganz nah. Er zog den Kopf zurück, schob ihn wieder vor. Da war er wieder, grinste und sah sich grinsen. Von links nach rechts, in jedem Tropfen. Von links? Er zog den Kopf wieder zurück, schob ihn abermals vor. Sein Abbild links streckte ihm die Zunge heraus. Etwas stimmte hier nicht. Gregg fasste sich an den Kopf: Sein Mund war geschlossen, die Zunge fest an den Gaumen gedrückt. Wie konnte das sein? Im zweiten Tropfen war er wieder normal, glotzte sich selbst erstaunt in die Augen, doch im dritten rümpfte er die Nase.

So etwas tat Gregg nicht.

Nie.

Ungläubig sah er weiter in seine Gesichter. Nummer vier zeigte ihm einen Vogel, fünf wackelte mit den Ohren. Gregg erstarrte. Er glotzte, sie glotzten zurück, oder er glotzte zurück. Aber das war nicht mehr er. Irgendwer sah ihm mit seinen Augen in seine Augen, und er war es nicht. Und dann fingen sie zu lachen an. Die tropfenkleinen Fratzen lachten von der Gletscherkante schallend durch die Nacht – lachten immer lauter und greller, bis der Gletscher erzitterte, bis Gregg selbst zitterte, bis sein Herz raste, er es nicht mehr aushielt, zu seinem Dodge rannte und einstieg.

Aber jetzt war Ruhe. Drei, zwei – dann donnerte der Regen auf ihn nieder. Die Karosserie vibrierte. Gregg versuchte, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken und rutschte ab. Noch einmal. Einen so heftigen Regen hatte er noch nie erlebt. Der Krach war unerträglich.

Endlich fand Gregg die Zündung und startete.

Er legte den Rückwärtsgang ein, wendete und brachte den Dodge auf die Asphaltpiste. Zurück, nichts wie zurück!

Als er die Kurve hinter sich gelassen hatte, trat er aufs Gaspedal. Geradeaus, was der Dodge hergab, durch den ganzen dunklen, lauernden Wald. Am Ortseingangsschild endlich ging er vom Gas. Der Highway fiel zur Brücke über den Creek hin ab, und die war wegen Bauarbeiten zur Hälfte gesperrt. Er bremste ab. Nichts geschah. Gregg stieg voll in die Eisen. Dann knallte es.

Moose Town, Alaska, 1. August, 08.37 h

Er wurde von schrillem Klingeln geweckt. Irgendwann griff er zum Telefonhörer und hielt ihn dorthin, wo er sein Ohr vermutete.

»Gregg?«, fragte jemand am anderen Ende der Leitung.

Gregg murrte. Er erkannte Hanks Stimme und dann fiel ihm ein, dass er den Mechaniker schon um sieben angerufen und gebeten hatte, seinen Dodge von der Brücke abzuschleppen. Danach musste er wieder eingeschlafen sein.

»Also, Gregg. Harvey, er arbeitet für mich seit dreißig Jahren, das weißt du ja. Er sagt, so was 

wie bei deinem Dodge hat er noch nicht gesehen. In dreißig Jahren nicht, Gregg. Und ich auch nicht.«

Gregg schleppte sich aus dem Bett, ging ins Bad und erschrak über das, was er im Spiegel sah.

»Gregg: Wasser.«

Sein linkes Auge war blutrot, der Scheitel zerzaust. Er war 45 Jahre alt, sah älter aus und blass – es war zu kalt gewesen letzte Nacht.

»Es hat geregnet«, sagte er und nieste.

»Wie?«

»Gegossen hat es«, murmelte Gregg, während er den Rasierapparat anstellte, das Telefon von der Linken in die Rechte wechselte und seine Bartstoppeln anging. »Deswegen ist mein Wagen nass, Hank.«

»Im ganzen County hat es seit drei Wochen nicht geregnet. Das einzig Nasse in der Gegend sind Bier und Whiskey im Moose Saloon. Es geht mich nichts an, Gregg, ehrlich, aber … im Fernsehen reden sie von Dürre. In Alaska! Na ja, Gregg, ich spreche nicht von Wasser auf dem Wagen, ich spreche von Wasser im Wagen.«

»Wo?«

Gregg legte den Rasierer beiseite, sein Bartwuchs war nicht stark.

»Gregg, Harvey und ich, wir haben auch mal Durst, und klar, du hast den Sand an der Baustelle über den Haufen gefahren und das sieht der Sheriff gar nicht gern. Aber Harvey hat alles beiseite gefegt. Man sieht nichts mehr. Na ja, also, es hat sich jemand einen üblen Scherz mit dir erlaubt, einen ziemlich üblen sogar und wir meinen, Gregg, du solltest mal mit ihm reden.«

Das Aftershave war alle und Gregg fiel ein, dass er vergessen hatte, im Drugstore neues zu kaufen. »Reden? Mit wem reden?“

„Na, mit dem Sheriff. Dein Dodge hat Wasser im Tank.«

***

Moose Town, Alaska, 30. Juli

»Ihre Rohre sehen vorbildlich aus, Mrs. Ellington«, sagte der Klempner, legte Rohrzangen und Schraubenzieher in den Werkzeugkasten zurück und sah sie mit warmen Augen an. »Kein Schmutz, kein Kalk, weder im Zu- noch im Abfluss. Beneidenswert.«

Martha Ellington sah verlegen zu Boden und war über sich selbst erstaunt. Resolut, stark, seit dreißig Jahren leitende und einzige Angestellte des Moose Town Travel Reisebüros, das Gregg Howard Jr. vor zehn Jahren von seinem Vater, Gregg Howard Sr., übernommen hatte, verstand sie, weit zu denken und mit Menschen umzugehen. Sie stand mit beiden Beinen im Leben. Zwar fühlte sie sich nicht sonderlich; in den letzten Wochen hatte sie schlecht geschlafen, wegen dieser Geräusche, die ihr zu schaffen machten. Doch sonst ging es ihr gut. Und Verlegenheit war nicht ihre Art.

Seine Augen. Vielleicht hätte sie ihn nicht rufen sollen. Und schon gar nicht von den Geräuschen erzählen. Andererseits …

Seit dreißig Jahren ließ sie alle Klempnerarbeiten von Mr. Clyve ausführen. Er kannte sich aus bei ihr, hatte die alte Waschmaschine angeschlossen und auch die jetzige, die Spülmaschine, die sie kaum benutzte – für eine Person war sie im Grunde zu groß –, hatte ihr sogar, als sie vor fünfzehn Jahren die neue Küche kaufte, das Spülbecken verlegt. Er war immer schon freundlich gewesen.

Doch nun sahen seine Augen so warm aus. Sie zwang ihr perfekt geschminktes, rundes Gesicht zu einem Lächeln und rückte die schlichte Perlenkette, mit der sie sich selbst zu ihrem Fünfzigsten beschenkt hatte, zurecht auf dem Kragen ihres dunkelblauen Kostüms.

»Nehmen sie doch bitte etwas Tee, Mr. Clyve.«

Sie schenkte aus der geblümten Kanne ein in die geblümte Tasse auf dem geblümten Wachstuch des Küchentisches.

»Ich habe neue Dichtungen eingesetzt. Hier am Wasserhahn, in der Dusche und an der Toilettenspülung. Die alten waren zwar noch in Ordnung. Aber für alle Fälle. Wollen wir doch mal hoffen, dass Ihre, nun, Beschwerden sich erledigen.«

»Milch? Zucker?«

»Danke.«

Er war grau geworden seit dem Tod seiner Frau – vor wie vielen Jahren war sie noch verstorben? – doch fand Martha, dass er zu den Männern gehörte, denen das Älterwerden stand. Sie reichte ihm die Tasse. Er nahm sie und sah sie wieder so an. Dann öffnete er lächelnd den Mund: »Sind Sie sicher, Martha, dass Sie Geräusche gehört haben?«

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.17 h

Mit puterrotem Kopf und verschwitztem Hemd stieg Gregg vom Rad und lehnte es an die Hauswand. Die Gangschaltung war hinüber und Luft war auch kaum auf den Reifen. Und er war außer Form, bekam einen Bauch. Er stieß die Tür zu Doris’ Diner auf.

»Du fährst Rad?«, fragte Doris, während sie mit der Kaffeekanne zwischen den Tischen ihres halb vollen Lokals herumging. Er murmelte etwas von kaputtem Auto, was sie mit einem aufrichtig mitleidvollen Blick quittierte.

»Und dein Auge?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Ganz rot.«

Sie stellte die Kanne auf den Tresen, rückte ihre gestärkte, weiße Schürze zurecht, dann ihre Brille: »Wie immer?«

An einen Barhocker gelehnt, sah er unsicher auf die Uhr, die zwischen den Regalen voller Kaffeebecher und Milchgläser hing. Doris folgte seinem Blick: »Du bist spät dran.«

»Zum Mitnehmen«, sagte er, nieste, suchte in der Hosentasche nach einem Taschentuch, fand keines und griff sich eine von den Papierservietten auf dem Tresen.

Während Doris Speck briet, den Toast mit Tomaten und kaltem Huhn belegte, sah sie plötzlich zu ihm auf. In die Grübchen zwischen ihren feingezogenen Brauen, die unter dem blonden Pony hervorschauten, legte sich Sorge: »Geht es Martha besser?«

 

***

 

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Als er fort war, nahm Martha eine Kopfschmerztablette und wischte den Küchentisch. Vorbildlich also waren ihre Rohre, sauber… »Sind Sie sicher, Martha, dass Sie diese Geräusche gehört haben?« »Oh ja, Mr. Clyve«, hätte sie sagen und ihre Hand auf seine Hand legen sollen. »Es klingt wie ein Lachen, wie unbeschwertes Lachen.«

Sie wusch den Lappen aus und hängte ihn an seinen Haken. Und lauschte – nichts als die seit Jahrzehnten vertraute Stille. Sorgsam nahm sie das Teegeschirr, um es zu spülen.

Es ging ihr wirklich nicht gut. Obwohl es jetzt still war. Sie verstand sich nicht.

»Sind Sie sicher, Martha, dass Sie diese Geräusche gehört haben?« »Sie haben wohl recht, Mr. Clyve«, hatte sie geantwortet, »wo doch alles in Ordnung ist.« »Alle Rohre sind völlig in Ordnung, Martha«, hatte er geantwortet. Und den Tee getrunken. Und nun war wieder Stille.

Als sie sich mit der Tasse über das Spülbecken beugte, hing dort am Wasserhahn ein Tropfen. Sie sah hinein und sah ein Gesicht. Rund, mit geschminktem Mund, um den Hals eine Perlenkette. Ihre Perlenkette. Es war ihr Gesicht. Dann fing ihr Gesicht im Tropfen zu lachen an. Martha ließ die Tasse fallen, die im Spülbecken zersprang, schnitt sich an einer Scherbe, zog den Oberkörper zurück, sah zum Küchentisch, zur Kanne, zum Wachstuch. Dieses Gesicht lachte. Durchdringend und unbeschwert lachte das Gesicht aus dem Wassertropfen.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.21 h

Mit einem Pappbecher und seinen Hühnchensandwiches in einer braunen Papiertüte, hastete Gregg aus dem Diner und lief Mrs. Sayers vom Friseursalon in die Arme.

»Mr. Howard! Ihr Auge …«

»Kleines Missgeschick.« Er nieste, zweimal, nestelte die eben benutzte Serviette aus der Hosentasche hervor, schnupfte und warf das Papier in den Mülleimer am Straßenrand.

»Oh, Mr. Howard.« Mrs. Sayers stemmte energiegeladen den Arm in die Hüfte, kräuselte ihre Oberlippe bis hinauf zu ihrer sorgfältig gepuderten Nase und entspannte sie dann wieder zu einem untadeligen Lächeln: »Mr. Howard, ist Martha zurück?«

»Höchstens noch ein, zwei Tage, leichte Sommergrippe, nichts Ernstes.«

Er sah ihren spitzen Ellenbogen, der durch den Ärmel ihrer Bluse drückte, und ihn fröstelte.

»Wo sie immer so robust ist. Sie hat mir aber auch gar nicht gefallen, letzten Samstag beim Bingo. Da war es bestimmt schon im Anzug. Natürlich hat sie sich nichts anmerken lassen, sie ist immer so tapfer, aber ich bitte Sie, ich frisiere Martha seit dreißig Jahren, ich weiß, wann sie angespannt ist. Richten Sie Grüße aus. Und dass ich sie jederzeit dazwischenschiebe. Es ist so wichtig, sich wohlzufühlen, und schön. Die Ärmste. Es ist aber auch die Zeit für so eine Sommergrippe.«

Gregg wollte sich gerade zwischen zwei Autos auf die andere Straßenseite retten, als es neben der Tür zu Doris’ Diner schepperte.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Martha beugte sich vor. Ihr Gesicht begann sich zu wandeln. Oder der Tropfen selbst, sie sah nicht mehr klar. Wie in dem Kaleidoskop, das sie als Kind gehabt hatte, schob sich dort ein Gesicht neben das andere. Sie sah es nur, wenn sie ganz nahe ranging. Alte, junge, dutzende und sie sah ihnen allen in die Augen: grüne, blaue, braune, geradeaus guckende, schielende, zwinkernde, unter buschigen oder gezupften Brauen sitzende. Dazwischen Nasen: breite, zierliche, lange. Was sie da sah, war Menschen nicht unähnlich, im Grunde waren die Gesichter wie die der Leute aus Moose Town, schoss es Martha durch den Kopf. Nur, dass sie dieses Gelächter verbreiteten. Und dann taten sie noch etwas, was die der Menschen in Moose Town noch nie getan hatten: sie verschwammen ineinander, lösten ihre Haut auf und zerflossen eins ins andere. Einige hatten nun mehrere Augen und Münder, andere trennten sich wieder wie in einem harmonischen Tanz. Dabei nahmen sie sich gegenseitig allerlei weg: wo eben noch eine Stupsnase gewesen war, war nun eine hakige und umgekehrt. Feines, langes Haar, getauscht gegen Bartstoppeln. Andere, die restlos verschmolzen, trennten sich nicht, hatten nun vier Augen, zwei Münder. Und alle lachten immer lauter in diesem Tropfen, der am Hahn hing. Martha hielt es nicht mehr aus und drehte das Wasser auf.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.22 h

Sein Fahrrad war umgefallen, gegen Doris’ Fenster. Aus dem Augenwinkel sah Gregg, wie Doris vor die Tür trat. Dann rannte er über die Straße, schloss die Tür zum Reisebüro auf, griff sich die Post, die der Briefträger durch den Türschlitz auf den Boden geworfen hatte, setzte sich an den Schreibtisch, stellte Kaffeebecher und Sandwichtüte ab und blickte durch das Schaufenster auf die andere Straßenseite: Doris und Mrs. Sayers steckten die Köpfe zusammen. Sie sahen so aus, wie er sich fühlte – ratlos. So fischte Gregg aus dem Poststapel, den er vom Boden geklaubt hatte, den Brief hervor. Als Absender stand dort nur Glacier View Hotel. Er sah noch einmal durchs Fenster: Doris stellte sein Rad auf – und der Sheriff trat hinzu. Wieder betrachtete Gregg den Brief, zitterte, fror. Die Handschrift hatte er längst erkannt, akkurat, präzise, seit zehn Jahren sah er sie jeden Tag. Es war Marthas.

Dann klingelte das Telefon.

 

***

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Das Wasser verschwand glucksend im Abfluss und augenblicklich war es still. Erst sah Martha auf die Scherben in der Spüle, dann zum Küchentischwachstuch, und wieder auf die Scherben. Blut tropfte von ihrer Hand. Es war durchsichtig, wässrig. Sie war müde, seit Wochen müde. Warum glaubte Mr. Clyve ihr nicht? Warum hatte sie ihm nicht alles gesagt? Martha starrte auf ihre Hand. Sie löste sich auf. Eine Träne rann aus ihrem linken Auge, bald auch aus dem rechten, und schließlich ergossen sie sich aus beiden. Sie rissen Marthas Schminke mit sich, tropften auf den Kragen ihrer dunkelblauen Jacke und lösten die Fäden. Sie selbst löste sich auf.

Dann erklang das Gelächter aus dem Bad. Ohne nachzudenken band Martha sich das geblümte Küchenhandtuch um die Wunde und lief hinüber.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.23 h

Der Sheriff zog den Revolvergürtel zurecht, die Augenbrauen hoch und überquerte langsam die Straße, direkt auf ihn zu. Hektisch riss Gregg den Briefbogen heraus und las. Viel war es nicht. Das Telefon hörte nicht zu klingeln auf. Er schwitzte. Der Sheriff hatte das Fenster erreicht und tippte zum Gruß mit dem Finger an die Hutkrempe. Schnell wollte Gregg den Brief unter einen Prospekt schieben, als er wieder niesen musste. Wieder langte er in seine Hosentasche, fand wieder kein Taschentuch, riss dann die braune Papiertüte auf, holte die Sandwiches heraus, und, richtig, Doris hatte ihm Servietten dazugelegt. Er schnupfte. Als er endlich wieder aufsah, war – zu seinem Erstaunen – der Sheriff nicht mehr da.

***

 

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Auch im Bad drang das Lachen aus dem Wasserhahn. Auch hier hing ein einziger Tropfen daran. Sicher gab es auch darin ein Gesicht, vielleicht viele, sie wollte es gar nicht sehen. Da hing ein Tropfen am Wasserhahn, ohne fallen zu wollen. Und lachte. Grundlos, unbeschwert. Es war nicht auszuhalten.

Man musste dem ein Ende setzen.

Wenn es nichts nützte, es wegzuspülen, so gab es offensichtlich nur einen einzigen anderen Weg. Martha durchschritt ihr Badezimmer. Auf der Ablage betrachtete sie Haarspray, Bürste, Lippenstift und Zahnpasta.

Ein endgültiges Ende musste man dem setzen.

Martha streckte die unverletzte Hand aus, den Mittelfinger, und drückte ihn fest auf das Loch im Wasserhahn, sodass nichts aus der Leitung dringen konnte, aus der laut Mr. Clyve untadeligen Leitung. Endlich Ruhe. Doch wie lange würde sie andauern? Sie sollte ihn noch einmal anrufen, ihn bitten, sich alles noch einmal anzusehen. Sicher würde er kommen. Doch dann? Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Wie still. Nur die Feuchte auf der Fingerkuppe. Er würde wieder gehen. Sie fühlte sich in sich zusammensacken. Als wenn die Erschöpfung endlich zu ihrem Recht käme.

So merkte Martha nicht, wie sie sich auflöste, mit dem Tropfen an der Kuppe ihres Mittelfingers verschmolz, dass sie zu einem großen Tropfen wurde, so groß und schwer, dass sie vom Wasserhahn in den Abfluss fiel und in ihm verschwand.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 31. Juli

Das Telefon klingelte. Martha war gestern nicht zur Arbeit erschienen (sie wollte später kommen, weil sie Mr. Clyve erwartete, irgendetwas mit der Wasserleitung), und heute auch nicht. Alle hatten nach ihr gefragt, der Briefträger, Doris, die ganze Stadt. Eine Sommergrippe, war seine Antwort. Das Telefon klingelte, den ganzen Tag schon, Hochsaison. Und Martha fehlte. Normalerweise hätte er schon vor zwei Stunden geschlossen, aber was sollte er tun?

Die Straße vor seinem Fenster leerte sich. Moose Town ging zur Ruh.

Martha hatte in dreißig Jahren nicht einmal gefehlt, und nun hatte sie sich seit gestern nicht gemeldet und er hatte keine Ahnung, was mit ihr war.

Das Telefon klingelte.

Doris schloss das Diner zu. Er nahm ab.

»Moose Town Travel«, meldete sich Gregg. Ein merkwürdiges Geräusch war in der Leitung.

»Hallo, können Sie mich hören?«, fragte er.

Doch da war nichts als ein Glucksen. »Hallo?« Gluck… gluck…

Gregg meinte, seinen Herzschlag zu hören. Gluck… gluck… gluck…. Glet… scher. Gletscher.

»Martha? Sind Sie es, Martha?« Doch es gluckste nur noch ein Weilchen weiter, bis die Leitung erstarb. Langsam legte Gregg auf. Er ordnete die letzten Unterlagen, schloss den Laden und trat auf die Straße. Die Luft war lau, Abendrot hing in den Wolken. Kein Geräusch war zu hören. Am Friseursalon von Mrs. Sayers waren schon die Jalousien heruntergelassen. Moose Saloon hatte Ruhetag. Doris putzte ihren Tresen. Nur der Drugstore an der Ecke war noch geöffnet. Das war Moose Town, schoss es ihm durch den Kopf. Und dass er Aftershave kaufen musste, fiel ihm ein.

Plötzlich schob sich eine Silhouette vor den untergehenden Sonnenball.

»Ein schöner Abend, nicht wahr, Gregg?«

Die Stimme war dunkel. Gregg sah auf: »’N Abend, Sheriff.«

»Und angenehm ruhig, hab ich recht, Gregg?«

»Völlig, Sheriff.«

»Du sagst es, Gregg, wie wir es alle hier mögen, bei uns in Moose Town.«

»Oh ja, alle mögen wir das.«

»So ist es, die Sonne geht auf über Moose Town und unter, und dazwischen ist nichts.«

Gregg suchte die Augen des Sheriffs, doch sah er sie nicht. Das Gesicht lag im Schatten, eine dunkle Schablone, nur der Mund, aus dem diese tiefe Stimme kam, war zu erkennen, ein noch dunklerer Schatten. Die Hutkrempe stach scharf in den Abendhimmel, und der Mann wuchs mit jedem Wort in die Höhe.

»Viel zu tun?«

»Hochsaison, Sheriff.«

»Dachte ich mir, Gregg. So spät bist du sonst nie auf der Straße, wo doch Ruhetag im Saloon ist, nicht deine Art, Gregg.«

»Ja, verdammt spät, Sheriff. Fahre direkt nach Hause.«

»Das ist gut, Gregg, sehr gut. Gute Heimfahrt. Die Sonne geht auf über Moose Town und unter und dazwischen…«

»Ist nichts«, beendete Gregg den Satz. Er war fort.

Der Himmel war wieder rot, die Straße blutrot. Diner, Saloon, Friseursalon, gleich schloss der Drugstore. Das war Moose Town und er fühlte Moose Towns Straßenstaub durch die Schuhsohlen. Nichts war. Stille. Kein Grund, auf der Welt zu sein. Und er war keinen Deut besser. Er stieg in seinen Dodge. Weder wusste er etwas von Martha noch hatte es ihn interessiert. Warum erzählte er allen von einer Sommergrippe? Weil er nicht darüber nachdenken wollte, wo sie war und was passiert war. Die Sonne geht auf und unter, dazwischen ist nichts und hat nichts zu sein. Er war müde, unendlich müde. Das Aftershave fiel ihm ein. Und dann der Anruf. Warum war er so sicher, dass es Martha war, diese lallende Stimme, ausgerechnet Martha? Gerade, weil er nichts wusste außer Guten Morgen, schönen Feierabend, seit zehn Jahren. Glet-scher. Er startete, legte den Gang ein und fuhr los.

 

***

 

Glacier View Hotel

Mühevoll stand Gregg vom Bett auf und trat ans Fenster. Die Vorhänge flatterten. Er fror, legte sich die Hand auf die Stirn: Fieber. Im Mondschein lag der Gletscher, das Hotel hielt, was sein Name versprach. Und voll war es, wie zu erwarten, so nah am Nationalpark. Zum hundertsten Mal holte er Marthas Brief aus der Jackentasche. Zimmer 13 stand da, mehr nicht. Und gewellt war der Briefbogen auf der Zahl 13, als wenn ein Wassertröpfchen daraufgefallen und langsam vertrocknet wäre. In keinem Hotel der Welt gab es ein Zimmer mit der Nummer 13. Hier schon.

Er sah in den Spiegel an der Wand: Das Rot in seinem Auge wurde heller, aber nicht weniger. Eher wässrig, verdünnt. Er sah mies aus. Er gab sich einen Ruck und trat auf den Flur. Leer, grell erleuchtet, lang war er und sehr kalt. Die Touristen schliefen. Vor der 13 blieb Gregg stehen und lauschte. Es gluckste. Es konnte kein Zurück geben, Gregg drehte den Türknopf und trat ein. Drinnen brannte das Licht. Bett, Schreibtisch, Stuhl, alt, billig, wie in seinem Zimmer, nur unberührt. Und entsetzlich kalt. Wie am Gletscher, dachte er.

Glet-scher raunte es. Er sah sich um und ahnte, woher es kam. Er durchschritt langsam das Zimmer und ging ins Bad. Dusche, Toilette, Waschbecken, sonst nichts. Nur ein Tropfen am Wasserhahn, rund, schwer. Gregg beugte sich vor: Sein Gesicht. Es lächelte. Sah wacher als er aus.

»Etwas schwerfällig heute, was?«, sagte es. »Du hast das alles doch gestern schon gesehen. Am Gletscher.«

Plötzlich war Greggs Panik wieder da. Wie gestern an der Gletscherkante. Sein Atem rasselte.

»Alles Wasser im County kommt vom Gletscher, wusstest du das nicht?«

»Was bist du?«

»Wie sehe ich denn aus?«

»Wie ich.«

»Na, Bingo.« Das Gesicht lachte höhnisch.

Runterzählen, dachte Gregg. Zehn, neun.“

»Die meisten sehen mich gar nicht, und ich meine jetzt mich, Gregg, nicht dich.« Acht. »Und von denen, die mich sehen, sehen die meisten sich selbst. Verrückt, was?« Die Stimme lachte wieder. »Sieht dir ähnlich, was Gregg? Im wahrsten Sinne des Wortes sieht’s dir hier ähnlich!« Die Lache wurde eiskalt und diese Fratze aalglatt. Sieben, sechs. Es nützte nichts mehr. Gregg zitterte immer stärker, er schwitzte.

Aber er musste am Ball bleiben, es weiter versuchen. Fünf.

»Martha?«, brach es plötzlich aus ihm hervor. Das Lachen erstarb.

»Oh, Martha«, sagte die Stimme zart. »Martha.«“

„Mit einem Mal spürte Gregg Luft zwischen zwei Herzschlägen. Zittrig aber ruhig, hörte er sich fragen: »Warum ist sie nicht da?«

Er hielt inne. Er brauchte nicht mehr weiterzuzählen, nein, er hielt stand, hielt dem Tropfenkopf stand. Er konnte allem standhalten, Sheriffs, Gletschern, Moose Town. Doch dann geschah es: der Tropfen schwoll an. Die Lache kehrte zurück, dunkler als zuvor hallte sie in Greggs Kopf wider. Und tat weh. »Du fragst, warum Martha nicht hier ist? Ausgerechnet du?« Er hielt den Schmerz nicht mehr aus, er stach ihm ins Auge. Gregg rannte los, aus dem Bad, durch das ärmliche Zimmer, auf den Gang. Das grelle Neonlicht im Flur ließ den Schmerz nur noch wachsen. Er rannte, minutenlang. Der Flur nahm kein Ende. Wo war er? Sein Herz raste schon wieder, Schweiß lief ihm von der Stirn, brannte im Auge. Endlos rannte er, bis er vor seiner Tür stand, aufschloss und mit einem Satz ins Zimmer sprang. Dann stand er im Bad. Er wusste nicht, wie er hineingekommen war. Aftershave fehlte, fiel ihm ein. Dann hörte er die Lache wieder. Unvermittelt vibrierte sie in seinem Hirn. Auch an diesem Hahn hing der Tropfen, Gregg erkannte sein Gesicht sofort. Es schwoll an, grässlich verzerrt, wie er sich nie hatte sehen wollen. Der Tropfen wuchs und schon quoll das Waschbecken über von ihm. Gregg sah in sein blutunterlaufenes Auge, sein glattrasiertes Gesicht. Längst war es größer als das auf seinem Kopf, die Lache sägte an seinen Nerven. Dann platzte sie und flog ihm knallend um die Ohren.

 

***

Moose Creek Cemetery, Moose Town, Alaska

»Asche zu Asche«, sprach der Reverend, die Sonne schien milde. »Staub zu Staub.« Er schaufelte etwas Sand aus dem Eimer und ließ ihn auf den Sarg rieseln. Musik gab es keine, doch war plätschernd und glucksend der Creek zu hören. Die halbe Stadt defilierte am Grab vorbei. Mrs. Sayers hielt Doris am Arm.

»Wie traurig«, sagte Doris.

»Auch für ihn«, sagte Mrs. Sayers und zog Doris fester zu sich heran. »Er ist gebrochen.«

Doris wischte sich eine Träne von der Wange: »Sie starb in seinen Armen.« Sie sahen zu Mr. Clyve hinüber, fahl und zitternd stand er am Grab, der Reverend nahm ihn beiseite.

»Wenn er nicht bemerkt hätte, dass er eine Zange während der Reparatur bei Martha hatte liegen lassen«, flüsterte Mrs. Sayers. »Und wie mutig von ihm, einfach hineinzugehen nach dem vergeblichen Klingeln. Man sagt, er fand sie im Bad liegen, vom Fieber fast völlig verbrannt.«

»Keine Rettung mehr. Aber er hielt sie fest, bis zum Schluss.«

»Eine heftige Sommergrippe, viel heftiger als ich es gedacht hätte nach dem, was Mr. Howard so sagte. Wie geht es ihm eigentlich?«

»Gregg? Noch im Koma. Die Kopfverletzungen sind sehr schwer.« Doris beugte sich vor: »Der Arzt sagte mir heute früh, während ich ihm den Speck briet, in Greggs Hirn sei etwas geplatzt. Man weiß nicht, ob er durchkommt.«

Sie schwiegen.

»Was hat er eigentlich in diesem Hotel dort gemacht, Doris?«

»Ich weiß auch nicht, warum er aus Moose Town fort ist, Mrs. Sayers.«

Sie fröstelte.

»Es ist kalt, Mrs. Sayers, wir sollten zurück.«

»Das ist der Creek, Doris. Er führt Gletscherwasser.«

Sie hakten sich ein und verließen den Friedhof, in die ruhigen Straßen von Moose Town. Der Sheriff grüßte sie wortlos, sie grüßten zurück. Der halbe Tag lag noch vor ihnen, bevor die Sonne unterging, aber es würde nichts mehr passieren in Moose Town. Nur der Creek gluckste.


Exotische Welten, O‘Connell Press, Weingarten 2014

Vicarius Morituri

Der verdammte Regen schlug Reinhard ins Gesicht. Seit Wochen dieses Wetter. Die Bauern fürchteten schon um die Heumahd und ob man im Winter wieder Stroh von den Dächern ans Vieh verfüttern müsste.

Aber Reinhard hatte andere Sorgen. Er rannte den Hügel hinauf, fort von der Rauchwolke. Es war nicht zu fassen: Reinhard hatte doch lediglich seinen im Sterben liegenden Oheim retten wollen, mit dem Zauber des Lebensfeuers, wie Perfectus Achert es ihn gelehrt hatte. Er hatte sich neben das Bett des schlafenden Oheims gestellt und die Formel gesprochen. Fiat ingis vitae! Doch als er die entscheidende letzte Silbe aussprechen wollte, hatte der Oheim die Augen aufgeschlagen, und ihm, Reinhard, der sich für den wahren Glauben immer noch schämte, hatte die Stimme versagt. Und nun stand der kleine Hof in Flammen, brannte trotz des Regens wie Zunder und mit ihm der Oheim und sieben Schweine. Feuer war gekommen, aber das falsche.

Auf der Kuppe hielt er inne. Von hier sah er den Grauen Berg, an dessen Felssturz das Franziskanerkloster kauerte. Die Päpstlichen müssten den Rauch sehen, wenn ihre Augen nicht vom Lesen der Bücher Satans erblindet waren. Und im Dorf sahen sie es auch und würden Rache nehmen wollen.

Reinhard musste den Perfectus warnen. Er eilte den Hügel auf der anderen Seite hinunter, auf das Waldstück zu, hinter dem das Haus des Perfectus stand. Am Bach hielt er an, um zu trinken. Maiglöckchen und Wasserranken wuchsen hier. Er kniete nieder, schöpfte mit der hohlen Hand und sah im Wasser sein junges Gesicht, kaum zwanzig, seinen blonden, wilden Schopf und die Angst in seinen Augen. Dann hörte er, wie Zweige knackten und sah zu den Eschen am Waldesrand. Plötzlich schossen zwei Reiter aus der Blätterwand hervor. Sie trugen dunkle Mäntel mit Kapuzen und sprangen über ihn hinweg. Reinhard warf sich nieder. Dann rasten sie auf den Hügel und verschwanden im Regen. 

Inquisitor Abelardus Herrlich bekreuzigte sich, als er die verkohlten Leichname in den Resten des Scheiterhaufens betrachtete. Dann saß er auf und stieß seinem Gaul die Fersen in die Flanken, um wieder Anschluss an seinen Tross finden. Dieser bestand aus Bruder Rivère, der dem Inquisitor als Schriftführer diente, Meister Figuera, der, in schweren Holzkisten auf mehrere Lastesel verteilt, seine wichtigsten Folterwerkzeuge mitführte, und aus einem Dutzend bewaffneter Männer, die ihm der Bischof von Trier zur Verfügung stellte.

Herrlich, früher nichts als ein einfacher Dominikanerbruder, genoss seit zwei Jahrzehnten das Vertrauen Roms im Kampf gegen den Antichrist. Als der Bischof von Trier den Heiligen Vater um die Stärkung der Gesetze Gottes mithilfe der Heiligen Inquisition gebeten hatte, war die Wahl sofort auf ihn gefallen.

Herrlich lenkte seinen Gaul nahe an den seines Ordensbruders.

„Und, Bruder Abélard, ist es so schlimm, wie der Bischof gesagt hat?“, fragte Rivère.

„Ein missgebildeter Säugling und die Mutter“, antwortete Herrlich.

Rivère umfasste das Holzkreuz an seinem Hals. „Missgebildet, sagt Ihr…?“

Herrlich versuchte, in den hellen Augen des zwanzig Jahre jüngeren, großen Mannes zu lesen. Er selbst war klein und hatte bereits ein Alter erreicht, das sich an kalten Wintertagen in den Knochen bemerkbar machte. Seine Entschlusskraft aber, den Kampf gegen Satan bis zum Letzten zu bestehen, war ungebrochen. 

„Dem Kleinen wuchs ein dritter Arm aus der Schulter“, sagte er. Rivère, noch immer das kleine Kreuz in der Hand, fragte wie in Gedanken: „Wie viele Rauchsäulen haben wir während unserer Fahrt von Trier auf der Mosel gesehen, Bruder Abélard?“

„Einundzwanzig“, entgegnete Herrlich. „Das Volk versucht selbst, die Hexerei zu besiegen. Doch das Volk ist schwach.“

„Dem Bischof kann das alles nicht gefallen…“

„Bruder Rivère, wollt Ihr andeuten, dass Ihr dem Bischof misstraut?“

Rivère ließ sein Kreuz los und antwortete: „Aber, Bruder Abélard, misstraut Ihr ihm nicht auch?“

„Der Bischof ist ein braver Vertreter des Glaubens“, antwortete Herrlich, und sie wussten beide, dass dies so ziemlich das Schwächste war, was man über einen so hohen Würdenträger sagen konnte. 

„Der Bischof von Trier“, hakte Rivère nach, „ersucht den Heiligen Vater um Hilfe. Ihr kommt, und dann schickt er uns mit einem Geleit von gerade einem Dutzend in diese dunklen, dicht bewaldeten Berge. Noch dazu mit Pferden, die alt sind, dass sie uns kaum in diese Ödnis hinein, geschweige denn wieder heraustragen.“

Den ganzen Tag schon ritten sie südwärts. Der Weg wurde enger, die Berge höher, nur hier und da gab es Weiler mit niedrigen Hütten, die sich ins Erdreich oder ins schroffe Gestein drückten.

„Meister Abel“, rief Meister Figuera. „Ich fürchte, die Packesel brauchen ihre Nachtruhe. Sie sind mindestens so gebrechlich wie die Gäule, die uns der Bischof gegeben hat.“

„Daumenschreiben und Spanischer Bock wiegen eben schwer auf dem Rücken eines gottgefälligen Maulesels“, spottete Rivère.

„Die Gerätschaften eines ehrenwerten Handwerks, Meister Rivère, nicht allen Dienern Gottes ist es vergönnt, IHN ausschließlich mit Wortwitz zu preisen“, gab Meister Figuera zurück.  

„Kein Zwist“, forderte Herrlich. „Oder könnte es sein, dass Satan dabei ist, uns ein Bein zu stellen?“ 

„Vater, erbarme dich“, murmelte Meister Figuera und fuhr fort: „Trotzdem frage ich mich, wo wir in dieser Wildnis wir ein Obdach finden.“

„Wann immer wir in eine Gegend kommen, die nicht aussieht wie Euer heimatliches Sevilla und wo Thymian wächst, bangt Ihr um Eure Nachtruhe“, lachte Rivère.

„Wir schlafen, wo Gottes Gnade uns unser Haupt betten lässt“, sagte Herrlich. „Aber Ihr habt Recht. Diese Gegend ist so verlassen, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass einige Katharer nach ihrer Vertreibung aus Köln sich hierher geflüchtet haben, ganz wie der Bischof vermutet.“

Sie hatten einen Hügel erklommen, als der Hauptmann sein Pferd anhielt und ausrief: „Seht, Herr!“

Eine feine Rauchwolke stieg am Horizont auf.

„Wieder eine Seele, die sie im Feuer zu erretten versuchen“, murmelte Meister Figuera und bekreuzigte sich. Herrlich fuhr auf: „Der Kampf gegen den Antichrist obliegt uns allein. Nur die Inquisition der Heiligen Kirche hat die Kraft, die Seele der Gnade Gottes zuzuführen. Wer uns übergeht, ist bestenfalls ein Mörder, schlimmstenfalls ein Handlanger des Bösen.“

„Für einen Scheiterhaufen scheint es mir zu viel Rauch, Bruder Abélard“, sagte Rivère. „Ihr habt Recht, dort brennt nicht ein Mensch, sondern etwas größeres. Ein Haus vielleicht“, entgegnete Herrlich. „Hauptmann! Wann erreichen wir das Kloster der Franziskaner?“ „Hoffentlich mit Einbruch der Dunkelheit, Herr. Es liegt in Richtung der Rauchwolke“, rief der Hauptmann.

„Ihr seht, meine Freunde“, sagte Herrlich zu Rivère und Meister Figuera, „wir sind auf dem richtigen Weg.“ 

Reinhard rannte weiter, bis endlich zwischen Eichen und Fichten das Haus des Perfectus zu sehen war. Nie zuvor war es ihm mit den massiven Quadern so sehr wie eine Trutzburg vorgekommen.

„Meister Achert!“, rief er und trommelte mit den Fäusten gegen die eisenbeschlagene Tür. Der Perfectus öffnete.

„Du kommst gerade recht“, sagte er und wies Reinhard Schemel. „Rück ans Feuer, um dich zu trocknen. Ich habe mit dir zu reden.“

„Meister Achert…“, unterbrach ihn Reinhard.

„Still jetzt. Ich muss dich auf etwas Wichtiges vorbereiten.“

„Aber Meister Achert…“, versuchte es Reinhard noch einmal.

„Schweig, sage ich dir.“

Der Ton des Perfectus wurde schärfer. Aber Reinhard rief mit zitternder Stimme: „Ich habe den Zauber des ignis vitae versucht.“

Und dann brach es aus ihm hervor und er erzählte alles bis zum Schluss. Der Perfectus nickte schließlich stumm. Dann sagte er: „Nun gut, das ist nun nicht mehr zu ändern. Aber es gilt etwas anders zu bereden.“

„Aber wir sind in großer Gefahr!“

„Stimmt. Aber nicht wegen deiner Kindereien. Wenngleich sie noch mehr Menschen hier gegen uns aufbringen könnten. Die Gefahr droht uns von etwas anderem. Der Bischof schickt einen Inquisitor.“

„Großer Gott, dann werden sie uns alle foltern und verbrennen! Alle unsere Brüder und Schwestern werden auf dem Scheiterhaufen landen.“

„Ganz so dramatisch ist es nicht. Rom hat seine Strategie etwas verändert. Sie fürchten mittlerweile, dass zu viele Verbrennungen ihre eigenen irregeleiteten Schafe in zu große Unruhe versetzen könnte, und konzentrieren sich nun auf die Perfecti und ihre Vertrauten“, sagte der Perfectus mit einem beschwichtigenden Lächeln.

„Aber das seid Ihr und ich!“ Reinhard zitterte. „Dann bleibt uns nur der Hungertod, Meister, damit wir unsere Seele gereinigt in die nächste Stufe entlassen können und nicht unter den Händen der Sklaven Baphomets…“ Aber er kam nicht weiter. Der Perfectus, der mittlerweile auch für sich einen Schemel ans Feuer gezogen hatte, griff nach Reinhards Handgelenken und verdrehte sie über Kreuz, so dass dieser seinem Meister bewegungsunfähig in die Augen sah.

„Du darfst nun keine Angst mehr haben, Reinhard“, sagte er. „Deine Angst vor der Kraft hat deinen Zauber bei deinem Oheim in die Irre geleitet. Und wir werden nun gegen den Inquisitor einen noch größeren Zauber einsetzen. Beruhige dich. Fasse Mut!“  

Und Reinhard wurde tatsächlich ruhiger. Schließlich fragte er leise: „Die Reiter?“

„Du bist ihnen begegnet? Ja, von ihnen weiß ich, dass der Bischof die Inquisition schickt.“

„Aber wer hat die Reiter geschickt, Meister?“

„Der Bischof.“

Reinhard verstand nichts mehr. Er lehnte sich zurück und spürte nur noch, wie ihn die Wärme des Feuers durchdrang.

„Warum warnt uns der Bischof?“, brachte er schließlich hervor.

„Du erinnerst dich an Perfectus Ries?“, fragte der Perfectus.

„Er wurde vor drei Jahren in Trier verbrannt“, antwortete Reinhard.

„So heißt es. Er wurde zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Ein Perfectus ist eingeweiht in die Höchste Macht. Es gelang ihm, den Bischof vor der Vollstreckung ein letztes Mal zu sehen. Und er machte ihn zu einem Vicarius Morituri. Zu einem Stellvertreter des Todgeweihten.“

Reinhard verstand nicht.

„Er tauschte ihre Hüllen. Wenn wir wirklich frei sind von Angst, Reinhard, sind wir zu allem fähig. Mit einer einfachen Formel gelang es Perfectus Ries, dass seine Seele und die des Bischofs die Körper wechselten. Der Bischof ging an seiner Statt in Flammen auf. Ein Körper ist nichts, Reinhard, wir dürfen keine Angst davor haben, ihn zu verlieren. Mit dieser Macht hätte Perfectus Ries sogar seinen verbrannten Körper wieder herstellen können. Aber er hat es vorgezogen, im Körper des Sünders zu bleiben. Um uns beistehen zu können. Und wir werden es machen wie er. Wir werden den Inquisitor selbst brennen lassen. Wir dürfen nur keine Angst haben. Bist du bereit, Reinhard?“

Reinhard schluckte. Schließlich nickte er.

Am Abend erreichte Herrlichs Tross den Grauen Berg. „Das Kloster hängt dort oben wie eine Fledermaus“, sagte Rivère. Sie mussten absteigen und den steilen Weg zu Fuß nehmen. Der Empfang war kühl. Herrlich hatte es nicht anders erwartet. Die Heilige Inquisition hatte niemand gern zu Gast. Noch dazu wachten Dominikaner wie Franziskaner stets eifersüchtig darüber, welchen Orden Rom gerade mit diesem wichtigen Amt betraute. Und unabhängig davon schadete es dem Ruf eines jeden Klosters, wenn in seiner Nähe Ketzer und Hexen überführt wurden. Während die Soldaten bei den Stallungen untergebracht wurden, führte der Abt, ein runzliger Greis, den Inquisitor, Rivère und Meister Figuera unendlich langsamen Schrittes ins Refektorium. Der Speisesaal war nasskalt. 

„Euer später Besuch überrascht uns, Bruder Abelardus“, sagte er. „Brot und Käse lasse ich sofort bringen, doch falls ihr Suppe und Braten wünscht, bitte ich um Geduld, bis die Herdfeuer neu entfacht sind.“

„Wir danken für Eure Gastfreundschaft. Aber Brot und Käse sind mehr als genug“, antwortete Herrlich. Meister Figuera murrte, aber der Inquisitor brachte ihn mit strengem Blick zum Verstummen. „Wir sind als Krieger Christi nicht zum Schlemmen hier sonder, um eine Schlacht zu gewinnen. Das Volk Christi ist in Bedrängnis, Ehrwürden. Ihr werdet Euch unserem Kampf sicherlich anschließen, nehme ich an?“

Mit verkniffenem Mund antwortete der Abt, während zwei junge Mönche Wasser, trockenes Brot und harten Käse hereintrugen, bei deren Anblick Meister Figuera die Augen verdrehte: „Ihr seid uns hochwillkommen, Bruder Abelardus. Die jungen Brüder hier werden Euch Euer Lager zeigen. Gute Nacht.“

Er wandte sich zum Gehen. Herrlich griff zu einem Stück Käse. „Ein konkreter Hinweis, Ehrwürden, wäre mir lieber.“

„Ein Hinweis?“, fragte der Abt, ohne sich umzudrehen.

„Man spricht von Hexerei. Davon dass Katharer sich in diese Gegend geflüchtet haben.“

„Unser Kloster liegt sehr isoliert, wie Ihr gesehen habt.“

„Wir suchen ihren Anführer, ihren Perfectus. Bei wem treffen sie sich? Wer kann dafür in Frage kommen?“

Herrlich sprach fordernd.   

„Ihr werdet mir Diener Gottes gestatten, das Vertrauen des Heiligen Vaters zu teilen, dass Ihr als Dominikaner angemessen in der Lage seid, selbst zu regeln, was Ihr zu regeln habt“, sagte der Abt.

„Der Inquisitor“, erwiderte Herrlich ruhig, während er eine Scheibe vom Käse schnitt, „vertritt den Heiligen Stuhl. Wer nicht mit ihm kooperiert, widersetzt sich dem Papst. Und wenn Euer Verstand nur halb so fest wäre, wie der Käse, den Ihr uns hier vorsetzen lasst, dann wüsstet Ihr, dass ich keine Sekunde zögern werde, Euch als Allersten in die Obhut der Instrumente meines Foltermeisters Figuera zu geben, Ehrwürden.“

Da endlich drehte sich der Abt um und kniff die Lippen zusammen.

„Dies ist die Formel“, sagte Perfectus Achert. „Aber dein Sinn muss frei von Angst sein, wenn du sie sprichst, Reinhard. Frei von Angst.“ Reinhard nickte. „Sis Vicarius Morituri. Sprich es nach.“

Und Reinhard sprach es nach. Du seiest der Stellvertreter des Todgeweihten.

Als der Abt gegangen war, hatten sie den Hinweis auf ein Steinhaus, zu dem ein Mönch die Garde am Morgen führen würde.

„Armer Abt“, sagte Rivère. „Sein ganzer Stolz dahin.“

Herrlich hatte jeglichen Kommentar zu Stolz und Sünde mit dem Käse runtergeschluckt. Aber es schmeckte bitter. In seiner Zelle betete er. Lange. „Herr, lass mich unermüdlich sein in der Erfüllung meiner Pflicht.“ Das Böse wütete ohne Unterlass. Und er, Inquisitor Abelardus Herrlich, kämpfte ganz vorn. Inbrünstig bat er Gott um ein Zeichen, dass sein Eifer frei wäre von Stolz und Eitelkeit. So oft hatte Gott ihm dieses Zeichen schon gewährt, so oft… Doch nichts. Bis er gegen Mitternacht etwas vor seiner Zellentür hörte. Er öffnete die Tür einen Spalt. Nur ein schwarzes Kätzchen, es huschte herein und umschmiegte seine Beine. Mit dem Fuß schob er es wieder hinaus. Herrlich mochte keine Katzen. 

„Bruder Abélard!“

Herrlich schlug die Augen auf. Ihm schwindelte.

„Bruder Abélard!“

Er öffnete die Tür.

„Die Soldaten haben den Perfectus gefasst“, sagte Rivère. Sie eilten ins Skriptorium, wobei Herrlich den Eindruck nicht loswurde, dass die Katze sie verfolgte. Auf einem der Schreibpulte hatte Rivère die Pergamente für das Protokoll vorbereitet und von den Deckenbalken hing ein Flaschenzug mit Hand- und Fußschellen. Zwischen Daumenschrauben und Spanischem Bock saß Meister Figuera an einem Kohlebecken, in dem er eifrig Eisenzangen zum Glühen brachte. Auf einem Schemel kauerte ein altes Männchen. Die Kräfte Satans, das wusste Herrlich, trugen oft ein harmloses Gewand. Die Personalien waren schnell aufgenommen.

„Achert. Nennt Ihr Euch Perfectus Achert?“, fragte der Inquisitor.

„Was sollte ich an meinem alten, verfallenden Leib perfekt nennen, Herr?“, antwortete Achert.

„Gott erschuf uns immerhin nach SEINEM Angesicht“, warf Herrlich ein. Ein Fehler, das wusste er, er war nicht bei der Sache.

„So sagt man, Herr.“

„So sagt man? So steht es geschrieben! Wollt Ihr die Heilige Schrift anzweifeln?“, fuhr Herrlich auf.

„Die Heilige Schrift zweifle ich nicht an, Herr.“ 

Wieder ein Formfehler. Rivère stöhnte leise und sah von seiner Mitschrift auf. Noch nie hatte er erlebt, dass der Inquisitor schon nach dreißig Sekunden die Nerven verlor, noch dazu wo dieser alte Mann sich eindeutig der Dialektik der Ketzer bediente, die nur den Geist heiligten, für die der Körper nicht das Geschöpf Gottes war und somit das gesamte Alte Testament mit dem Schöpfungsbericht Teufelswerk. Für die Katharer war nur das Neue Testament eine heilige Schrift.  Rivère sah, wie der Inquisitor in eine Ecke starrte. Auf eine schwarze Katze.

Ihre grünen Augen, fand Herrlich, schienen ihn zu sich zu ziehen. Sein Schwindelgefühl kehrte zurück.

„Nennt Ihr Euch Perfectus“, fragte Herrlich erneut.

„Ich nenne mich nicht Perfectus“, lautete die Antwort.

„Aber ihr werdet Perfectus genannt?“

Der Alte schwieg, und Rivère atmete erleichtert auf. Ein Führer der Ketzer würde nie lügen, es war offensichtlich, dass er auf eine rhetorisch gewandte Ausrede sann. Endlich war der Inquisitor auf dem richtigen Gleis!

„Wenn Ihr nicht antwortet, muss ich die Werkzeuge des Heiligen Stuhls anwenden lassen“, sagte Herrlich mit einer Handbewegung zu Meister Figuera.   

„Euer Heiliger Stuhl ist nichts als eine stinkende Latrine“, sagte der Alte und lachte.

Meister Figuera sprang mit seiner Zange auf und rief: „Lasst mich diesem Ketzer seine Zunge zähmen, Herr!“

„Ruhe“, sagte Herrlich. „Die Folter dient nicht der Strafe sondern der Wahrheitsfindung. Nur die Flammen reinigen und strafen.“

Meister Figuera setzte sich widerwillig, der Alte lachte noch immer. Die Katze streckte sich. Herrlich beugte sich zum Alten hinunter: „Nennt man dich Perfectus?“

Der Alte sah ihn an und bewegte die Lippen. Herrlich beugte sich tiefer. Der Alte flüsterte: Sis Vicarius Morituri.

Sofort wurde alles um Herrlich schwarz. Er spürte nur einen Sog in seinem Innersten. Dann saß er auf dem Schemel vor sich selbst und sah sich Befehle erteilen: „Hängt ihn auf! Meister Figuera, die Zangen!“

Zwei Soldaten zerrten ihn vom Schemel, legten ihm die Fuß- und Handschellen an und zogen ihn hoch. Der Riss, der durch den Inquisitor ging, brannte wie Feuer. Meister Figuera hielt ihm die Zange vors Gesicht.

„Aber Bruder Abélard“, rief Rivère und winkte mit dem Federkiel.

„Schweigt“, herrschte ihn der vermeintliche Inquisitor an.

„Seht Ihr es denn nicht?“, brüllte Herrlich. „Der da ist Satan, er hat uns vertauscht!“

Aber seine Stimme war die des Perfectus Achert, und unter sich sah er Meister Figueras hasserfüllten Blick.

„Reißt ihm das ketzerische Auge heraus“, sagte sein Körper dort unten.

Und Meister Figuera tat nichts lieber als das. Das glühende Metall ließ sein Auge platzen, noch bevor es ihn berührte. Ein Ruck in seinem Kopf, dann rann eine brennend heiße Flüssigkeit seine Wange hinab.

„Nein“, schrie Rivère. „Das ist gegen alle Regeln!“

Jetzt erst zerriss Herrlich der Schmerz und er schrie markerschütternd. Doch mit dem verbliebenen Auge sah er alles. Wie Meister Figuera sein blutiges Auge in der Zange vor sich her trug. Wie die Katze voller Angst miaute und sprang, dass sie ein junger Mann namens Reinhard war, dass sie das Kohlebecken umriss, die Glut auf die Bücher des Skriptoriums stob, wie Rivère Meister Figuera die Zange mit dem Auge aus der Hand riss, seinen eigenen besessenen Körper dort unten niederschlug. Er sah die Flammen aufschlagen und alle Seelen, die er selbst je in den Flammen hatte verbrennen lassen, sah er. Sie bliesen und fachten das Feuer an.  Er sah, wie sein Körper sich im Todeskampf wand, und dann sah er einen Tunnel, ein Licht, und sprang hinein. 


Avatare, Roboter & andere Stellvertreter; Wendepunkt Verlag, Weiden 2010

Wie es kam, dass ich mich infiziert habe

Mein schwules Auge 7, konkursbuch Verlag, Tübingen 2010

Es war ein sonniger Tag. Der erste Tag im Jahr, an dem die Leute die Jacke, die sie morgens angezogen haben, ab dem Vormittag über die Schulter hängen und die Sonnenstrahlen durch ihr Hemd, an dem sie vielleicht die Krawatte lockern und einen Knopf öffnen, auf den Oberkörper lassen. Ein Tag, an dem die Nippel etwas sichtbarer hervorstechen.  

Jeder kennt solche Tage. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es wirklich der erste warme Tag im Jahr ist; es ist ein Tag, der einem so vorkommt. Aus den Bäumen brechen die Blätter hervor, und wenn man in einem Café sitzt, fällt einem eine grasgrüne Raupe in den Schoß. Man schnippt sie sich von der Jeans, und dieses Schnippen geht durch den Schenkel, ziept kurz im Magen und versetzt einem einen kleinen Stich in die Nippel, so wie man sich das an den Nippeln der anderen vorstellt, die mit lockerem Schritt an einem vorübergehen, einem Schritt, den man sich heute genauer ansieht als noch an den kühleren Tagen zuvor.

An so einem Tag habe ich mich infiziert.

Und an einem ebensolchen Tag, viele Jahre zuvor, hatte ich auch meine erste Erektion. Als ich sieben war. Oder acht. 

Im Stern, der bei uns zu Hause abonniert war, gab es ein Fotospezial zum Thema Polaroids und das damals neue SX-70-System.  Ich begriff nicht vollständig, was ein Polaroid war, auch wenn meine Eltern leidenschaftlich darüber diskutierten, ob das nun die Zukunft der Fotografie wäre oder nur ein Rohrkrepierer.

Meine Zukunft lag auf dem Titelblatt jenes Sterns. Es zeigte eine wunderschöne, gut gekleidete Frau mit der faltbaren SX-70-Spiegelreflexkamera, die sie in der Hand, und mit einem Foto, das sie zwischen ihren kirschroten Lippen hielt: darauf ein Mann, aufgenommen in dem Ausschnitt zwischen Knien und Brust, der nichts weiter trug als Haut und Haar. Das Geschlecht bedeckte er mit seinen Händen, und es sah so aus, als habe er es fest im Griff. Den Stern durchblätterte ich damals regelmäßig, bis zur Kinderseite Sternchen im hinteren Viertel. Aber jetzt betrachtete ich nur das Titelblatt, verstohlen, denn es war ja klar, dass es verboten war. Weil es mich so merkwürdig erregte. Schließlich tat ich so, als würde ich die Sternchen-Seite suchen, und dabei durchsuchte ich doch nur die mit römischen Ziffern nummerierten Seiten des Fotospezials nach mehr von diesem Mann. Vergeblich. So viel männlicher Körper wie auf dem Titelblatt war im gesamten Heft nicht zu finden. 

Ich ging ins Bad, ließ die Hose runter und legte die Hände über mein Geschlecht, genau wie dieser Mann, und betrachtete mich in der Abdeckung der Klopapierhalterung. Die war aus Metall und gewölbt und ließ meine Oberschenkel kräftiger aussehen. Im Polaroid lag eine Botschaft, das spürte ich, und ich wollte sie entschlüsseln. So griff ich zu, drückte, Hände über- und  nebeneinander, bis er wuchs und endlich steif war. Meine erste Erektion.

Die Zeit verging mit neuen Folgen von Lemi und die Schmöker, den neuen Asterix-Heften und unzähligen Erektionen, Streichelungen, Berührungen, allein und mit meinen Cousins.

Und irgendwann kam ich. Aus Versehen. Da lag es auf meinem Bauch. Weiß, schleimig. Unheimlich. Aber ich war kein Angsthase, ich probierte es. Und es hat mir gut geschmeckt.

Entgegen dem, was man vermuten könnte, habe ich immer aufgepasst. Und es fiel mir auch nicht schwer. Ich war verliebt, lernte küssen, hatte Sex und sah Pornos – meist heterosexuelle, die waren zugänglicher – in denen Frauen keuchend stöhnten und die Schwänze, aus denen es in ihre Gesichter spritzte, sauber leckten; Bilder, die mich kurz erhitzten, ohne mir tief unter die Haut zu gehen. 

Dann kam der erfahrene Mann, der mir mit gutem Zureden (ich bin ganz vorsichtig), erfahrenen Handlungsanweisungen (du musst  gar nichts weiter tun als dich einfach zu entspannen),  und vernünftigen Argumenten, denen ich mich nicht verschließen konnte (komm schon, deswegen bist du doch mitgekommen) die bis dahin unbekannten Muskeln tief in meinem Inneren näher brachte. 

Im Grunde aber musste ich gar nicht aufpassen. Ich befolgte ja nur einfache Regeln. Wie die, dass man nicht in Steckdosen fasst, sich nicht in der Badewanne fönt und nicht einschläft, solange die Kerzen auf dem Nachttisch noch brennen.

So stand ich im zarten Alter von Mitte zwanzig in einer Kaschemme am Eingang zum Darkroom, mit dem x-ten Bier in der Hand  gegen die Wand gelehnt. Von der Wand neben dem Tresen flackerten Pornos und ich begutachtete den Testosteronspiegel derer, die im Dunkel verschwanden, immer auf dem Sprung. Doch plötzlich erregte ein Film meine Aufmerksamkeit: zwei Typen, die aussahen, als hätten sie sich im Studio 54 aufgegabelt, zogen sich Hemden mit langen Kragen und enge Jeans mit weitem Schlag aus, holten aus dem Küchenschrank zwei flache schwarze Teller und stellten sie auf den Tisch. Einige Einstellungen waren unscharf, alle waren rot- und blaustichig, wie alte Polaroids, die man längst in irgendeiner Schublade vergessen hat. Ich konnte nicht mehr davon lassen. Die beiden rammelten sich unter den Hängeschränken, um die Kaffeemaschine, über dem Spülbecken, gegen den mannshohen amerikanischen Kühlschrank. Als ihre Zeit gekommen war, stellten sie sich einander gegenüber an den Tisch, wichsten und spritzten schließlich, ohne dass ein Tropfen daneben ging, ihre geballten Ladungen jeder auf einen Teller, appetitlich angerichtet, weiß auf schwarzem Porzellan. Und dann tauschten sie die Teller aus und leckten sie langsam ab.

Ich leckte mit. Jeden Tropfen ließ ich tief durch meine Kehle rinnen. Und in den folgenden Jahren tat ich es immer wieder; erst nur, wenn ich Sex hatte, egal wie, mit wem und wo, später auch immer, wenn mir jemand nur über den Weg lief, auf den ich abfuhr: in Gedanken leckte ich jeden Tropfen, den er auf die Laken, auf seinen oder meinen Körper, auf das Email der Badewanne spritzte, jeden Tropfen, der noch an seiner Eichel hing, langsam auf.  

Seit dieser Nacht musste ich aufpassen. Denn seitdem spürte ich einen Drang, von dem ich lernen musste, ihn zu unterdrücken.

Es war 2001, im Frühjahr. An einem langen freien Tag, den ich für mich allein hatte, weil mein Freund verreist war. Morgens meditierte ich, war aber unruhig. Vormittags schlich ich ums Telefon. Griff aber doch nicht zum Hörer. Dann gab ich mir einen Ruck und ging hinaus.

Es war der erste warme Tag im Jahr.

Die Leute waren leicht bekleidet, wer eine Jacke dabei hatte, trug sie über die Schulter und im Sonnenschein stachen die Nippel der Männer etwas deutlicher als sonst hervor. Ich setzte mich in ein Straßencafé, bestellte einen Cappuccino und holte ein Buch hervor – ich habe immer ein Buch dabei – und begann zu lesen. Dabei wartete ich darauf, dass sich aus dem frischen Grün der Bäume die Raupe auf meinen Schoß fallen lassen würde, damit ich sie von meinem Schenkel schnippen könnte. Das tat sie aber nicht. Stattdessen sah ich den vorübergehenden Männern auf den Schritt. Es schoss aus ihren Eicheln wie die Triebe aus den Zweigen, und in dem wunderschönen Roman von Murakami in meiner Hand konnte ich keinem einzigen Satz folgen. Stattdessen leckte ich jeden Tropfen. 

Schließlich schlug ich das Buch zu, ging nach Hause und schlich wieder ums Telefon.

Es war die Zeit der Dating Lines Ich griff zum Hörer, wählte und  hatte schnell eine Verabredung für den Abend.

Ich sollte Bier mitbringen, weil er pissen wollte, ich sollte ihn ficken, und vielleicht wollte noch ein Freund von ihm kommen. Ich war mit allem einverstanden und dachte doch an nichts anders als an die schwarzen Teller, die ich ablecken wollte, und nie ablecken durfte.

Ich nahm die S-Bahn und kaufte zwei Sixpacks im Edeka in seiner Straße. Als ich vor seiner Haustür stand, zögerte ich. Die Abendsonne schien mir ins Gesicht. Sie sah so schön rot aus. Ich könnte einen Spaziergang machen, dachte ich noch. Aber dann sah ich auf die Bierdosen in meiner Hand und ging in den Hausflur.  

Er war groß, schlank und nackt.

Ich hatte gedacht, dass wir sofort übereinander herfallen würden, doch stattdessen plauderte er auf mich ein und führte mich in den hell erleuchteten, quadratischen Flur. Dort setzte ich mich auf einen Stuhl und zog meine Schuhe aus. Dieser Stuhl war aus Pappe, es gab mehrere davon, aus dunklen und hellen gepressten Papplagen. 

Er sah nicht unsympathisch aus, wie er an die Wand gelehnt stand, die Lippen bewegte und sich dabei über den Schwanz strich.

Mitten im Flur stand ein riesiger Tisch, auf dem ein Durcheinander von Papieren herrschte. Je länger ich hinsah, desto mehr Pappschachteln, Plastikröhrchen und Gläschen sah ich aus der Papierflut auftauchen, Tablettenverpackungen aller Art, eine Batterie von Medikamenten, die ich nicht kannte. Ich dachte: Hat er HIV? Vielleicht hat er HIV. Dann war ich mir sicher, dass er HIV hatte.

Ich zog die Jacke aus.

„Kannst du morgen ausschlafen?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich und schob die Bierdosen in die Unordnung auf dem Tisch. Er erzählte von gefühlvollen Kolleginnen, die rücksichtsvoll damit umgehen würden, wenn er morgen nicht fit war.

„Schluckst du?“, fragte er, öffnete zwei Dosen, reichte mir eine, wir prosteten uns zu.

„Mein eigenes schon“, gab ich zurück und versuchte zu grinsen.

„Lecker“, sagte er und wischte sich Bier vom Mund.

Die Deckenlampe warf ein grelles Licht auf die Medikamente, aber ich sah nur, wie wir uns küssten, stöhnten und uns tiefe Stöße versetzten. Und saß regungslos da. Irgendwie schaffte es die Abenddämmerung aber doch noch in den fensterlosen Flur, die Erinnerung daran, wie schön die Welt draußen jetzt sein musste, in Rot getaucht. Draußen war das Leben schön, und hier standen Medikamente. Ich saß wie betäubt ohne Schuhe und Jacke auf dem Pappstuhl und mein halbsteifer Schwanz drückte gegen meine frisch rasierten Eier. Und hatte zugleich Angst.

Ich war seiner Stimme am Telefon gefolgt, hatte Bier gekauft, wollte trinken, pissen, ficken, ihn küssen, hatte eben noch in den Sonnenstrahlen draußen das pralle Leben gespürt, prall wie mein Arsch, meine Schenkel und Lippen.

Der Abendhimmel drang zwar weiter vor, aber alles, was ihm gelang, war, meinen Phantasien einen Rotstich zu versetzen, von dem zwei-, dreimaligem Spermaschwall, den dieser Mann und ich abspritzten. Auf die Pappstühle. Es rann zäh und langsam über die hellen und dunklen Pappschichten. Und wir leckten es, die Stuhlbeine hinauf, über die Sitzflächen, die Lehnen hinab. Lecker!

„Ich muss mal ins Bad“, sagte er und verschwand.

Da saß ich, allein, in einem Flur voller Bierdosen, Pappstühle, Medikamente und ohne Fenster.

Geh jetzt, sagte ich zu mir. Ich hörte es ganz deutlich: Geh jetzt.

Ich hätte Schuhe und Jacke anziehen und gleich gehen können. Ich hätte Schuhe und Jacke anziehen, mich, sobald er aus dem Bad zurückkam, von ihm verabschieden und dann gehen können. Stattdessen blieb ich auf dem Pappstuhl sitzen.

Schluckst du?

Nein!

Er kam aus dem Bad und fragte: „Gehen wir nach nebenan?“

Und wortlos ging ich mit ihm nach nebenan. 

bäng bäng

I hit the ground, bang bang, that awful sound, bang bang, my baby shot me down. Nancy Sinatra sang gegen den auf die Karosserie prasselnden Regen an, der die Ratten aus den Gullis trieb. Sie verlor. Das Taxi hielt vorm Madison. Neun Euro sechzig. Ich hab immer noch Schwierigkeiten mit dem Trinkgeld, gab wortlos einen Zehner und stieg aus. Zu Hause lag Ulf.

Ein kurzer Blick durch den Regen, Januar, ich fror. Das Sony Center ein umgestülptes Raumschiff, einzelne Fassadenteile glichen erleuchteten Gletscherwänden, an denen das Wasser herablief, aseptisch, Glas, Chrom, Metall. Mageninhalt der Architektur. Ich sah die Tote schon von Weitem im zweiten Stock, hinter Glas, während meine Füße nass wurden und die Ratten an mir vorbei zum Landwehrkanal rannten. Sie steckte grell erleuchtet hinter der fünfstöckigen Glasfassade im gläsernen Fahrstuhl. Drumherum Spurensicherung und Streife. Ich hatte Angst. Dass Ulf nicht mehr da sein würde, wenn ich morgens zurückkam. My baby shot me down. Ich werde diesen Song nicht los.

Die Häuserflucht sah eisig aus wie diese erbärmliche Nacht. 

„Wir sind hier unten, aber Sie müssen die Treppe nehmen, die Fahrstühle sind außer Betrieb.“ Dr. Alt lachte zynisch. Nach unten, obwohl die Leiche, deren Tod ich aufzuklären hatte, im zweiten Stock im Fahrstuhl hing; das Leben geht Umwege. Die Metalltreppe führte ins Kinofoyer, der Blick nach oben war grauenvoll: stahlhartes Blau, Metallgalerien fünf Etagen hoch, in der Mitte, eiskalt, der Fahrstuhlschacht, drei Kabinen, alles Glas, in einer ein blutüberströmtes Gesicht, das mit weit aufgerissenen totenstarren Augen auf mich herabglotzte, von schlohweißem Haar umspielt. Die Alt, Gerichtsmedizinerin stand am Tresen des Foyers und löste Kreuzworträtsel. Ich hasse, wie sie raucht.

„Sind Sie schon fertig?“

„Hier läuft doch nichts.“ Sie deutete mit ihrer Zigarette vage nach oben und qualmte mich ein, ohne aufzuschauen. Angewidert wandte ich mich ab. „Kaffee? Nie an den Tatort ohne Thermoskanne.“ Sie hatte sogar an eine Stange Pappbecher gedacht. Monika kam auf mich zu. So wach, selbstbewusst. Ich unterdrückte ein Gähnen. Vielleicht hat sich in diesem Moment alles entschieden. Dr. Alt, Ende dreißig, dezenter Lippenstift, goss ein, verrührte Qualm und Kaffeedampf, Monika eine sportliche junge Frau, ich einundvierzig. Ulf ist 29. Sie telefonierte, zart und leise: „Ich weiß nicht wann ich komme, das kann hier noch Stunden dauern. Nein, das geht so nicht.“ Zärtliche gespielte Strenge. Halb vier. Sie küsste das Telefon und wurde geküsst. Er war geschickt. Fürchterlich geschickt.

„Hallo Ute. Der Fahrstuhl steckt fest und lässt sich nicht öffnen. Wir warten auf den Notdienst von Flohr-Otis. Es gab hier letzte Nacht mehrere kurze Stromausfälle, vielleicht liegt‘s daran.“ Die Alt gluckste und schüttelte den Kopf mit diesem Ich-habs-schon-immer-gewusst-Ausdruck. Gar nichts wusste sie.

„Du kommst gerade recht. Das hier habe ich am Eingang gefunden.“ Monika warf ihren roten Haarschopf in den Nacken, als sie die Handtasche auf dem Metalltresen vor den hinter Glas verschlossenen Chips, Flips, Weingummis und Schokoriegeln ausschüttete. Auf Dr. Alts Rätselheft. Dabei strahlte sie so. Wir anderen, ungeschminkt im grellen Neonlicht, auf einer Skala zwischen Monika und der Toten sahen wir nicht sehr lebendig aus, fahl. Der übliche Inhalt einer Damenhandtasche. Papiertaschentücher, Schlüssel etc. Eine Postkarte mit dem Kölner Dom, „Liebe Oma…Deine Lene“. Eine Packung Borvecin, zwei Scheiben abgepacktes Schwarzbrot, Portemonnaie, etwas Bares, Karten, Ausweis. Charlotte Bensch, geb. Lamert, sechsundsiebzig Jahre und zwei Tage alt.

„Lass das alles ins Labor bringen.“ Ich sah hoch durch die Glasfahrstühle und die Glasfassade hinaus, in den kalten Regen, sah den Schemen am Fenster auf der anderen Straßenseite. Wer weiß schon, was an deinem Nächsten dich fertig macht. Meine Nacht war schön gewesen, bisher. Aber von Monika träumten die Männer, darum beneidete ich sie. Sie schlich sich in ihren Schlaf, bäng, bäng. Ja.

„Seltenes Präparat. Bei Alterszucker mit Komplikationen oder Unverträglichkeiten. Die meisten nehmen es mehrfach täglich, auch vor dem Schlafengehen.“

„Sie hätte es also wahrscheinlich noch nehmen müssen, bevor…?“

Dr. Alt inhalierte in ihren massigen Oberkörper.

„Und was kann passieren, wenn nicht…“

„Übelkeit, Schwindel, Bewusstlosigkeit, bei einer Person dieses Alters, Herzversagen?“

Ich schaute auf zu der schlohweißen Dauerwelle. Warum erschießt man eine chronisch kranke Greisin?

„Erbschaft“, sagte Monika. Wir gingen die stählernen Treppen hoch in den zweiten Stock, wo der Fahrstuhl feststeckte. Es gibt genau zwei Gründe für Mord: Habgier oder die Angst, eine Lebenslüge nicht mehr aufrechterhalten zu können. Im Grunde ist die Habgier nur eine Art dieser Angst. Zwei Kollegen der Spurensicherung nahmen die Fingerabdrücke an der Fahrstuhltür. 

„Hat man gehört, dass der Schröder oder der Fischer spenden? Aber wir Armen sollen immer spenden.“

Ich bat sie, beiseite zu treten. Sie lag da in einem neuen Lodenmantel, neben ihr ein Handy. Alte Leute tragen neue Mäntel nur dann, wenn ihre alten wirklich verschlissen sind oder wenn sie viel Geld haben.

„Ich will unseren Experten nicht vorgreifen, aber das Loch hier“, Monika tippte an die Fahrstuhltür, „sieht nach einem Einschuss aus nächster Nähe aus.“ 

Meine Assistentin war die beste ihres Jahrgangs, das macht es nicht einfacher und ist nun auch bedeutungslos.

„Dr. Alt, ich weiß, ohne eine Obduktion können Sie nichts sagen. Aber können Sie nicht vielleicht doch etwas sagen?“

„Nein, natürlich nicht“, sie zog tief an ihrer Zigarette, „aber das Blut“, und unabsichtlich blies sie mir wieder ihren Qualm ins Gesicht. Auch der Schemen gegenüber im Madison rauchte, jedenfalls glimmte es, oder es war der Regen, der mich täuschte. Der Kopf lag schräg am Boden, so dass wir die Stirn sehen konnten, und sie fuhr fort: „Das Blut könnte noch recht frisch sein. Eine Stunde, vielleicht zwei.“

„Wann ging der Notruf ein, Monika?“

Sie sah auf ihre Uhr. „Vor etwas über einer Stunde.“

„Hast du das Gebäude schon durchsucht?“

Sie sah mich mit großen ratlosen Augen an. Ich hatte sie und schrie: „Hast du eigentlich nur noch diesen Typen im Kopf? Das hier ist deine Arbeit!“ Sie wollte etwas erwidern, ließ es sein. Ich sagte nur: „Geh.“ Ganz ruhig. Das war genug. Sie zuckte die Achseln und zog ab.

Die Alt zog an der Zigarette und sagte:

„Es geht mich nichts an, und es gibt auch Gereiztheiten zwischen drei und vier Uhr morgens, über die man aufgrund der Uhrzeit hinwegsieht. Aber man merkt Ihnen schon an, dass sie die Kleine nicht mögen.“

Verstohlen verglich ich die Falten auf ihren Händen mit meinen.

„Haben Sie einen Regenschirm?“

Sie sah mich stumm an. Wir gingen zurück, hinunter ins Foyer zu ihren Taschen. Nahmen einen Schluck aus den Pappbechern, der Kaffee war kalt geworden. Dann reichte sie mir den Schirm mit einem fragenden Blick. „Eine Nachtwanderung?“ Und wandte sich wieder dem Rätsel zu.

Die Schatten auf der Straße hielt ich immer noch für Ratten, der Regen prasselte auf mich herab, kalt, wieder fror ich, so ein Wetter macht jeden High-Tech-Ort zu einem Drecksloch, die Gestalt am Fenster verschwand. He didn‘t even say goodbye, he didn‘t take the time to lie, bang bang. Ulf würde bleiben, kein Bettchen-wechsel-dich. Sicher. Aber die dicken Wolken erstickten den Sternenhimmel, und es würde noch lange dunkel sein. Ich schob dem müden Mädchen an der Rezeption des Madison meinen Ausweis unter die Stupsnase und fragte, ob jemand namens Bensch oder Lamert im 5. Stock wohnte. Frau Collins-Lamert, Zimmer 515. „Eine alte Dame aus USA“, fügte sie hinzu. „Sehr nett.“ Ich spielte Er-bleibt-er-bleibt-nicht mit den Fahrstuhlknöpfen. Er blieb, bäng bäng, er blieb.

Die Tür stand offen. Das Gespräch dauerte 2 Minuten 40 Sekunden, so lange dauert der Song der Sinatra; ich weiß, es klingt unwahrscheinlich, aber er lief leise im Radio, I was five and he was six, als sie rief: „Treten Sie ein. Bitte, setzen Sie sich zu mir.“

Meine Hände wurden feucht: ich sah in das Abbild der Toten.

„Erschrecken Sie nicht. Eineiige Zwillinge. Unverkennbar, nicht wahr?“

Dasselbe weiße Haar, dasselbe Gesicht, ein dunkles Kostüm. Sie nahm einen Schluck Cognac. „Ich nehme an, Sie dürfen nicht, in dieser Minibar gibt es auch Säfte.“ Sie lachte und eine leichte Fahne kam mir entgegen. Ich lehnte dankend ab und setzte mich ans Fenster.

„Erzählen Sie von Anfang an,“ sagte ich, und sie strich ihr Haar zurück.

„Wir kamen aus der Spätvorstellung. Truffaut. Lotte verbrachte Ewigkeiten in der Toilette. Es war schon längst niemand mehr im Foyer. Wir sind immer gern ins Kino gegangen. Schon als junge Mädchen. Ansonsten…“

„Ja“, sagte ich fragend, denn sie schwieg.

„Unsere Geburtstage haben wir natürlich gemeinsam verbracht, seit wir verwitwet sind. Wir haben ja nur uns. Dafür komme ich stets nach Berlin. Und dann haben wir uns gestritten. Seit 76 Jahren. Immer. Das war unser Ritual. Zwei alte Hexen.“

Sie lachte, nahm einen Schluck und zündete sich eine neue Zigarette an. Von hier sah die Nacht wärmer aus, im Licht aus dem bizarren Glaskasten gegenüber, in dem eine Tote im Aufzug hing, als wäre alles gar nicht wahr, strich Monika durch die Etagen, suchte, verschwand in Türen, kam aus anderen wieder hervor.

„Wir stiegen in den Fahrstuhl, die Tür ging zu. Und dann fiel der Strom aus und wir steckten fest. Wissen Sie, was es bedeutet, wenn zwei hasserfüllte alte Frauen über eine Stunde in einem dunklen Fahrstuhl festsitzen?“

Ihr Lachen klang hart wie die Stahlträger, die durch die Fassade gegenüber schimmerten. Hart und bitter.

„Und dann?“ Sie brauchte etwas Anschub.

„Mein Mann war vermögend. Immer hat sie mich darum beneidet, dabei war ihrer es auch. Aber mein Mann, mein Leben in den Staaten, das war alles zweite Wahl, da hatte sie mir schon längst den einzigen Mann weggeschnappt, den ich je geliebt habe.“ Cherchez l‘homme. „Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn der Mann, den man liebt, bei einer anderen ist?“ Ich erwiderte nichts. „Ich hasse sie.“ Sie sprach in der Gegenwart und ich fragte mich, warum zwei alte Menschen sich mit einem Alle-Jahre-wieder-Theater quälten. Aber ich sah auch den roten Faden noch nicht.

„Sie werden das nicht begreifen können. Ihre Generation bildet Patchwork-Familien. Jeder mit jedem, und wenn man nicht mehr mag, lässt man den anderen allein. Aber wir sind vorsintflutliche Kreaturen. Für uns ist Familie noch das einzige, was wir haben. Nicht das Geld. Vielleicht ist es auch nur, weil wir die wirklich schrecklichen Zeiten miterleben mussten, dass wir so aneinanderhängen.“ 

Im grell erleuchteten Aufzug die Leiche, das Blut, die Polizisten, von hier aus war das alles nur eine makabere Vorstellung. Ich deutete mit dem Kinn hinüber.

„Haben Sie Ihre Schwester von hier aus betrachtet?“

„Ihr bis in den Tod alle Aufmerksamkeit schenken? Nein! Erst als ich die Sirenen hörte, bin ich ans Fenster gegangen.“

Ich fand, sie war nicht vorsintflutlich, ich fand, sie war eine Natter.

„Ab und zu versuchte Lotte, Lene anzurufen, bekam aber kein Netz bei all dem Metall da drüben.“

„Die Enkelin Ihrer Schwester?“

„Meine Nichte, ja. Die Arme musste immer für sie springen, sie umhudeln. Nach dem Autounfall ihrer Eltern wuchs sie bei Lotte auf. Und die hat sie ausgebeutet, emotional, sagt man heutzutage. Keinen Pfifferling bist du wert, hat ihr gedroht, sie zu enterben, wann immer sie schlechte Laune hatte. Und das hatte Lotte ständig. Ich habe immer gehofft, Lene würde eines Tages aufwachen und sich zur Wehr setzen. Lotte zum Beispiel vergiften. Aber Lene ist immer so träge, so träge. Nun. Plötzlich ging die Tür auf und ich ging raus. Sie schrie, ich solle auf sie warten. Typisch Lotte, ohne sich einen Schritt zu bewegen. Ich ertrug ihren Anblick nicht mehr. Nur ein Knopfdruck, und so habe ich den Fahrstuhl nach oben geschickt. Und plötzlich fiel dieser Strom wieder aus. Sie rief und schlug gegen den Glaskasten. Ich bemerkte, dass ich noch ihre Tasche in der Hand hielt. Natürlich wusste ich, dass sie ihre Medikamente brauchte, bald. Aber ich ertrug es nicht, ich ertrug es nicht.“ Ihre Stimme zitterte, eine Träne, eine einzige, dann wieder ein Schluck Cognac. Und dann fügte sie ernst hinzu: „Ich habe bereits mit meinem Anwalt in New York telefoniert. Man wird mir höchstens unterlassene Hilfeleistung vorwerfen können, “

Der Regen draußen nahm zu, es goss in Strömen, vielleicht hatte ich einen Augenblick nicht ganz zugehört.

„War der Revolver in der Handtasche, gehörte er Ihrer Schwester?“

Langsam hob sie die Zigarette und sah mich fragend an.

„Ein Revolver? Ich spreche von den Medikamenten in der Handtasche, die Lotte hätte einnehmen müssen.“

„Frau Lamert, Ihre Schwester wurde erschossen.“

Die Hand mit der Zigarette auf dem Weg zum Mund sank unendlich langsam auf die Sessellehne herab. „Erschossen? Lotte wurde erschossen?“

Sie spielte nicht. Das Entsetzen war echt. Dann ging durch den Glaskasten gegenüber etwas wie ein Ruck, die fünf, sechs Beamten zogen ihre Waffen und richteten sie hinunter ins Foyer. Ich rannte ohne nachzudenken, aus dem Madison, durch den Regen, Monika hat Lene gefunden, und Lene ist bewaffnet, schoss es mir durch den Kopf. Kein weiterer Gedanke, nur ein kurzes Bild – sein Gesicht, Ulfs Gesicht. Und dann dies: Eine erstarrte Dr. Alt, noch den Pappbecher in der Hand, eine Waffe an den Kopf gerichtet von einer jungen, bleichen, übernächtigten Frau. Dr. Alts übermächtiger Brustkorb sprang auf und ab. Und die strahlende Monika hatte ihre Waffe auf den Boden gelegt und ging langsam auf die beiden zu. Monika tauschte sich gegen die Alt aus!!!

„Monika, spinnst du? Lene, legen Sie die Waffe nieder! Sie machen es so nur schlimmer!“ schrie ich.

Die Alt wuchtete ihren schweren Körper aus der Schusslinie, Monika hatte nun Lenes Revolver an der Schläfe.

„Ich wollte doch nicht! Ich wollte doch nicht! Aber sie hat…“

Doch plötzlich versetzte Monika ihr einen Stoß mit dem Ellenbogen und riss sich los. Alles passierte blitzschnell. Lene Bensch zielte auf Monika, alle zielten. „Runter!“, schrie ich. Und dann ging ein schwarzer Engel vorbei und sah mich an. Ulf an ihren Lippen hängend wie sie ihm erzählt, was sie hier durchstanden hat. Die Schüsse knallten und verhallten wie bei einer Theateraufführung. Sie sackte zusammen.

Er bleibt, bleibt nicht, er bleibt, bleibt nicht, er bleibt. Es gibt zwei Gründe, jemanden umzubringen, Habgier oder weil man eine Lebenslüge nicht mehr aufrechterhalten kann.

Die ballistische Untersuchung hat ergeben, dass die Kugel in Monikas Lunge, an der sie auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben ist, aus einer Polizeidienstwaffe stammt. Und zwar aus meiner. Bäng bäng. My baby shot me down.

Und jetzt möchte ich einen anderen Song hören, um diesen zu vergessen.


Der Kurzkrimi „bäng bäng“ erhielt den 5. Preis des Literaturwettbewerbs des Filmmuseums Berlin 2005