bäng bäng

I hit the ground, bang bang, that awful sound, bang bang, my baby shot me down. Nancy Sinatra sang gegen den auf die Karosserie prasselnden Regen an, der die Ratten aus den Gullis trieb. Sie verlor. Das Taxi hielt vorm Madison. Neun Euro sechzig. Ich hab immer noch Schwierigkeiten mit dem Trinkgeld, gab wortlos einen Zehner und stieg aus. Zu Hause lag Ulf.

Ein kurzer Blick durch den Regen, Januar, ich fror. Das Sony Center ein umgestülptes Raumschiff, einzelne Fassadenteile glichen erleuchteten Gletscherwänden, an denen das Wasser herablief, aseptisch, Glas, Chrom, Metall. Mageninhalt der Architektur. Ich sah die Tote schon von Weitem im zweiten Stock, hinter Glas, während meine Füße nass wurden und die Ratten an mir vorbei zum Landwehrkanal rannten. Sie steckte grell erleuchtet hinter der fünfstöckigen Glasfassade im gläsernen Fahrstuhl. Drumherum Spurensicherung und Streife. Ich hatte Angst. Dass Ulf nicht mehr da sein würde, wenn ich morgens zurückkam. My baby shot me down. Ich werde diesen Song nicht los.

Die Häuserflucht sah eisig aus wie diese erbärmliche Nacht. 

„Wir sind hier unten, aber Sie müssen die Treppe nehmen, die Fahrstühle sind außer Betrieb.“ Dr. Alt lachte zynisch. Nach unten, obwohl die Leiche, deren Tod ich aufzuklären hatte, im zweiten Stock im Fahrstuhl hing; das Leben geht Umwege. Die Metalltreppe führte ins Kinofoyer, der Blick nach oben war grauenvoll: stahlhartes Blau, Metallgalerien fünf Etagen hoch, in der Mitte, eiskalt, der Fahrstuhlschacht, drei Kabinen, alles Glas, in einer ein blutüberströmtes Gesicht, das mit weit aufgerissenen totenstarren Augen auf mich herabglotzte, von schlohweißem Haar umspielt. Die Alt, Gerichtsmedizinerin stand am Tresen des Foyers und löste Kreuzworträtsel. Ich hasse, wie sie raucht.

„Sind Sie schon fertig?“

„Hier läuft doch nichts.“ Sie deutete mit ihrer Zigarette vage nach oben und qualmte mich ein, ohne aufzuschauen. Angewidert wandte ich mich ab. „Kaffee? Nie an den Tatort ohne Thermoskanne.“ Sie hatte sogar an eine Stange Pappbecher gedacht. Monika kam auf mich zu. So wach, selbstbewusst. Ich unterdrückte ein Gähnen. Vielleicht hat sich in diesem Moment alles entschieden. Dr. Alt, Ende dreißig, dezenter Lippenstift, goss ein, verrührte Qualm und Kaffeedampf, Monika eine sportliche junge Frau, ich einundvierzig. Ulf ist 29. Sie telefonierte, zart und leise: „Ich weiß nicht wann ich komme, das kann hier noch Stunden dauern. Nein, das geht so nicht.“ Zärtliche gespielte Strenge. Halb vier. Sie küsste das Telefon und wurde geküsst. Er war geschickt. Fürchterlich geschickt.

„Hallo Ute. Der Fahrstuhl steckt fest und lässt sich nicht öffnen. Wir warten auf den Notdienst von Flohr-Otis. Es gab hier letzte Nacht mehrere kurze Stromausfälle, vielleicht liegt‘s daran.“ Die Alt gluckste und schüttelte den Kopf mit diesem Ich-habs-schon-immer-gewusst-Ausdruck. Gar nichts wusste sie.

„Du kommst gerade recht. Das hier habe ich am Eingang gefunden.“ Monika warf ihren roten Haarschopf in den Nacken, als sie die Handtasche auf dem Metalltresen vor den hinter Glas verschlossenen Chips, Flips, Weingummis und Schokoriegeln ausschüttete. Auf Dr. Alts Rätselheft. Dabei strahlte sie so. Wir anderen, ungeschminkt im grellen Neonlicht, auf einer Skala zwischen Monika und der Toten sahen wir nicht sehr lebendig aus, fahl. Der übliche Inhalt einer Damenhandtasche. Papiertaschentücher, Schlüssel etc. Eine Postkarte mit dem Kölner Dom, „Liebe Oma…Deine Lene“. Eine Packung Borvecin, zwei Scheiben abgepacktes Schwarzbrot, Portemonnaie, etwas Bares, Karten, Ausweis. Charlotte Bensch, geb. Lamert, sechsundsiebzig Jahre und zwei Tage alt.

„Lass das alles ins Labor bringen.“ Ich sah hoch durch die Glasfahrstühle und die Glasfassade hinaus, in den kalten Regen, sah den Schemen am Fenster auf der anderen Straßenseite. Wer weiß schon, was an deinem Nächsten dich fertig macht. Meine Nacht war schön gewesen, bisher. Aber von Monika träumten die Männer, darum beneidete ich sie. Sie schlich sich in ihren Schlaf, bäng, bäng. Ja.

„Seltenes Präparat. Bei Alterszucker mit Komplikationen oder Unverträglichkeiten. Die meisten nehmen es mehrfach täglich, auch vor dem Schlafengehen.“

„Sie hätte es also wahrscheinlich noch nehmen müssen, bevor…?“

Dr. Alt inhalierte in ihren massigen Oberkörper.

„Und was kann passieren, wenn nicht…“

„Übelkeit, Schwindel, Bewusstlosigkeit, bei einer Person dieses Alters, Herzversagen?“

Ich schaute auf zu der schlohweißen Dauerwelle. Warum erschießt man eine chronisch kranke Greisin?

„Erbschaft“, sagte Monika. Wir gingen die stählernen Treppen hoch in den zweiten Stock, wo der Fahrstuhl feststeckte. Es gibt genau zwei Gründe für Mord: Habgier oder die Angst, eine Lebenslüge nicht mehr aufrechterhalten zu können. Im Grunde ist die Habgier nur eine Art dieser Angst. Zwei Kollegen der Spurensicherung nahmen die Fingerabdrücke an der Fahrstuhltür. 

„Hat man gehört, dass der Schröder oder der Fischer spenden? Aber wir Armen sollen immer spenden.“

Ich bat sie, beiseite zu treten. Sie lag da in einem neuen Lodenmantel, neben ihr ein Handy. Alte Leute tragen neue Mäntel nur dann, wenn ihre alten wirklich verschlissen sind oder wenn sie viel Geld haben.

„Ich will unseren Experten nicht vorgreifen, aber das Loch hier“, Monika tippte an die Fahrstuhltür, „sieht nach einem Einschuss aus nächster Nähe aus.“ 

Meine Assistentin war die beste ihres Jahrgangs, das macht es nicht einfacher und ist nun auch bedeutungslos.

„Dr. Alt, ich weiß, ohne eine Obduktion können Sie nichts sagen. Aber können Sie nicht vielleicht doch etwas sagen?“

„Nein, natürlich nicht“, sie zog tief an ihrer Zigarette, „aber das Blut“, und unabsichtlich blies sie mir wieder ihren Qualm ins Gesicht. Auch der Schemen gegenüber im Madison rauchte, jedenfalls glimmte es, oder es war der Regen, der mich täuschte. Der Kopf lag schräg am Boden, so dass wir die Stirn sehen konnten, und sie fuhr fort: „Das Blut könnte noch recht frisch sein. Eine Stunde, vielleicht zwei.“

„Wann ging der Notruf ein, Monika?“

Sie sah auf ihre Uhr. „Vor etwas über einer Stunde.“

„Hast du das Gebäude schon durchsucht?“

Sie sah mich mit großen ratlosen Augen an. Ich hatte sie und schrie: „Hast du eigentlich nur noch diesen Typen im Kopf? Das hier ist deine Arbeit!“ Sie wollte etwas erwidern, ließ es sein. Ich sagte nur: „Geh.“ Ganz ruhig. Das war genug. Sie zuckte die Achseln und zog ab.

Die Alt zog an der Zigarette und sagte:

„Es geht mich nichts an, und es gibt auch Gereiztheiten zwischen drei und vier Uhr morgens, über die man aufgrund der Uhrzeit hinwegsieht. Aber man merkt Ihnen schon an, dass sie die Kleine nicht mögen.“

Verstohlen verglich ich die Falten auf ihren Händen mit meinen.

„Haben Sie einen Regenschirm?“

Sie sah mich stumm an. Wir gingen zurück, hinunter ins Foyer zu ihren Taschen. Nahmen einen Schluck aus den Pappbechern, der Kaffee war kalt geworden. Dann reichte sie mir den Schirm mit einem fragenden Blick. „Eine Nachtwanderung?“ Und wandte sich wieder dem Rätsel zu.

Die Schatten auf der Straße hielt ich immer noch für Ratten, der Regen prasselte auf mich herab, kalt, wieder fror ich, so ein Wetter macht jeden High-Tech-Ort zu einem Drecksloch, die Gestalt am Fenster verschwand. He didn‘t even say goodbye, he didn‘t take the time to lie, bang bang. Ulf würde bleiben, kein Bettchen-wechsel-dich. Sicher. Aber die dicken Wolken erstickten den Sternenhimmel, und es würde noch lange dunkel sein. Ich schob dem müden Mädchen an der Rezeption des Madison meinen Ausweis unter die Stupsnase und fragte, ob jemand namens Bensch oder Lamert im 5. Stock wohnte. Frau Collins-Lamert, Zimmer 515. „Eine alte Dame aus USA“, fügte sie hinzu. „Sehr nett.“ Ich spielte Er-bleibt-er-bleibt-nicht mit den Fahrstuhlknöpfen. Er blieb, bäng bäng, er blieb.

Die Tür stand offen. Das Gespräch dauerte 2 Minuten 40 Sekunden, so lange dauert der Song der Sinatra; ich weiß, es klingt unwahrscheinlich, aber er lief leise im Radio, I was five and he was six, als sie rief: „Treten Sie ein. Bitte, setzen Sie sich zu mir.“

Meine Hände wurden feucht: ich sah in das Abbild der Toten.

„Erschrecken Sie nicht. Eineiige Zwillinge. Unverkennbar, nicht wahr?“

Dasselbe weiße Haar, dasselbe Gesicht, ein dunkles Kostüm. Sie nahm einen Schluck Cognac. „Ich nehme an, Sie dürfen nicht, in dieser Minibar gibt es auch Säfte.“ Sie lachte und eine leichte Fahne kam mir entgegen. Ich lehnte dankend ab und setzte mich ans Fenster.

„Erzählen Sie von Anfang an,“ sagte ich, und sie strich ihr Haar zurück.

„Wir kamen aus der Spätvorstellung. Truffaut. Lotte verbrachte Ewigkeiten in der Toilette. Es war schon längst niemand mehr im Foyer. Wir sind immer gern ins Kino gegangen. Schon als junge Mädchen. Ansonsten…“

„Ja“, sagte ich fragend, denn sie schwieg.

„Unsere Geburtstage haben wir natürlich gemeinsam verbracht, seit wir verwitwet sind. Wir haben ja nur uns. Dafür komme ich stets nach Berlin. Und dann haben wir uns gestritten. Seit 76 Jahren. Immer. Das war unser Ritual. Zwei alte Hexen.“

Sie lachte, nahm einen Schluck und zündete sich eine neue Zigarette an. Von hier sah die Nacht wärmer aus, im Licht aus dem bizarren Glaskasten gegenüber, in dem eine Tote im Aufzug hing, als wäre alles gar nicht wahr, strich Monika durch die Etagen, suchte, verschwand in Türen, kam aus anderen wieder hervor.

„Wir stiegen in den Fahrstuhl, die Tür ging zu. Und dann fiel der Strom aus und wir steckten fest. Wissen Sie, was es bedeutet, wenn zwei hasserfüllte alte Frauen über eine Stunde in einem dunklen Fahrstuhl festsitzen?“

Ihr Lachen klang hart wie die Stahlträger, die durch die Fassade gegenüber schimmerten. Hart und bitter.

„Und dann?“ Sie brauchte etwas Anschub.

„Mein Mann war vermögend. Immer hat sie mich darum beneidet, dabei war ihrer es auch. Aber mein Mann, mein Leben in den Staaten, das war alles zweite Wahl, da hatte sie mir schon längst den einzigen Mann weggeschnappt, den ich je geliebt habe.“ Cherchez l‘homme. „Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn der Mann, den man liebt, bei einer anderen ist?“ Ich erwiderte nichts. „Ich hasse sie.“ Sie sprach in der Gegenwart und ich fragte mich, warum zwei alte Menschen sich mit einem Alle-Jahre-wieder-Theater quälten. Aber ich sah auch den roten Faden noch nicht.

„Sie werden das nicht begreifen können. Ihre Generation bildet Patchwork-Familien. Jeder mit jedem, und wenn man nicht mehr mag, lässt man den anderen allein. Aber wir sind vorsintflutliche Kreaturen. Für uns ist Familie noch das einzige, was wir haben. Nicht das Geld. Vielleicht ist es auch nur, weil wir die wirklich schrecklichen Zeiten miterleben mussten, dass wir so aneinanderhängen.“ 

Im grell erleuchteten Aufzug die Leiche, das Blut, die Polizisten, von hier aus war das alles nur eine makabere Vorstellung. Ich deutete mit dem Kinn hinüber.

„Haben Sie Ihre Schwester von hier aus betrachtet?“

„Ihr bis in den Tod alle Aufmerksamkeit schenken? Nein! Erst als ich die Sirenen hörte, bin ich ans Fenster gegangen.“

Ich fand, sie war nicht vorsintflutlich, ich fand, sie war eine Natter.

„Ab und zu versuchte Lotte, Lene anzurufen, bekam aber kein Netz bei all dem Metall da drüben.“

„Die Enkelin Ihrer Schwester?“

„Meine Nichte, ja. Die Arme musste immer für sie springen, sie umhudeln. Nach dem Autounfall ihrer Eltern wuchs sie bei Lotte auf. Und die hat sie ausgebeutet, emotional, sagt man heutzutage. Keinen Pfifferling bist du wert, hat ihr gedroht, sie zu enterben, wann immer sie schlechte Laune hatte. Und das hatte Lotte ständig. Ich habe immer gehofft, Lene würde eines Tages aufwachen und sich zur Wehr setzen. Lotte zum Beispiel vergiften. Aber Lene ist immer so träge, so träge. Nun. Plötzlich ging die Tür auf und ich ging raus. Sie schrie, ich solle auf sie warten. Typisch Lotte, ohne sich einen Schritt zu bewegen. Ich ertrug ihren Anblick nicht mehr. Nur ein Knopfdruck, und so habe ich den Fahrstuhl nach oben geschickt. Und plötzlich fiel dieser Strom wieder aus. Sie rief und schlug gegen den Glaskasten. Ich bemerkte, dass ich noch ihre Tasche in der Hand hielt. Natürlich wusste ich, dass sie ihre Medikamente brauchte, bald. Aber ich ertrug es nicht, ich ertrug es nicht.“ Ihre Stimme zitterte, eine Träne, eine einzige, dann wieder ein Schluck Cognac. Und dann fügte sie ernst hinzu: „Ich habe bereits mit meinem Anwalt in New York telefoniert. Man wird mir höchstens unterlassene Hilfeleistung vorwerfen können, “

Der Regen draußen nahm zu, es goss in Strömen, vielleicht hatte ich einen Augenblick nicht ganz zugehört.

„War der Revolver in der Handtasche, gehörte er Ihrer Schwester?“

Langsam hob sie die Zigarette und sah mich fragend an.

„Ein Revolver? Ich spreche von den Medikamenten in der Handtasche, die Lotte hätte einnehmen müssen.“

„Frau Lamert, Ihre Schwester wurde erschossen.“

Die Hand mit der Zigarette auf dem Weg zum Mund sank unendlich langsam auf die Sessellehne herab. „Erschossen? Lotte wurde erschossen?“

Sie spielte nicht. Das Entsetzen war echt. Dann ging durch den Glaskasten gegenüber etwas wie ein Ruck, die fünf, sechs Beamten zogen ihre Waffen und richteten sie hinunter ins Foyer. Ich rannte ohne nachzudenken, aus dem Madison, durch den Regen, Monika hat Lene gefunden, und Lene ist bewaffnet, schoss es mir durch den Kopf. Kein weiterer Gedanke, nur ein kurzes Bild – sein Gesicht, Ulfs Gesicht. Und dann dies: Eine erstarrte Dr. Alt, noch den Pappbecher in der Hand, eine Waffe an den Kopf gerichtet von einer jungen, bleichen, übernächtigten Frau. Dr. Alts übermächtiger Brustkorb sprang auf und ab. Und die strahlende Monika hatte ihre Waffe auf den Boden gelegt und ging langsam auf die beiden zu. Monika tauschte sich gegen die Alt aus!!!

„Monika, spinnst du? Lene, legen Sie die Waffe nieder! Sie machen es so nur schlimmer!“ schrie ich.

Die Alt wuchtete ihren schweren Körper aus der Schusslinie, Monika hatte nun Lenes Revolver an der Schläfe.

„Ich wollte doch nicht! Ich wollte doch nicht! Aber sie hat…“

Doch plötzlich versetzte Monika ihr einen Stoß mit dem Ellenbogen und riss sich los. Alles passierte blitzschnell. Lene Bensch zielte auf Monika, alle zielten. „Runter!“, schrie ich. Und dann ging ein schwarzer Engel vorbei und sah mich an. Ulf an ihren Lippen hängend wie sie ihm erzählt, was sie hier durchstanden hat. Die Schüsse knallten und verhallten wie bei einer Theateraufführung. Sie sackte zusammen.

Er bleibt, bleibt nicht, er bleibt, bleibt nicht, er bleibt. Es gibt zwei Gründe, jemanden umzubringen, Habgier oder weil man eine Lebenslüge nicht mehr aufrechterhalten kann.

Die ballistische Untersuchung hat ergeben, dass die Kugel in Monikas Lunge, an der sie auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben ist, aus einer Polizeidienstwaffe stammt. Und zwar aus meiner. Bäng bäng. My baby shot me down.

Und jetzt möchte ich einen anderen Song hören, um diesen zu vergessen.


Der Kurzkrimi „bäng bäng“ erhielt den 5. Preis des Literaturwettbewerbs des Filmmuseums Berlin 2005