Ein heißer Sommerabend, draußen, hell. Die Dächer einer Stadt, eine gerade Asphaltspur. Schnitt. Die Gleise einer S-Bahn-Linie. Den Himmel über alledem kann kein Wässerchen trüben, keine Wolke weit und breit, blau, dunkelblau, vielleicht zu dunkles Blau. Tiefes, dunkles Blau. Schnitt.
Eine lange gerade Straßenflucht, links und rechts Altbauten, grau und trostlos. Früher einfach grau und trostlos, heute grau und hipp und deshalb trostlos. Schnitt. Ein Kind mit einem Buch in der Hand kommt die Straße entlang, überquert ohne nach links oder rechts zu schauen einen Zebrastreifen. Es sieht müde aus. Es hat Sommersprossen, könnte Mädchen wie Junge sein. Es verschwindet in einem Hauseingang.
Dann ist nichts. Das lange Atmen einer vorbeifahrenden S-Bahn, das in der Abendluft verhallt. Stille. Schnitt. Der Himmel ist noch weiter, das dunkle Blau noch tiefer. Ein Auto kommt, der Motor brummt, es fährt vorüber, dann ist es weg. Menschenleere. An den Balkonen der Altbaufassaden hängen keine Blumen, wenn doch, sind sie mickrig.
Ein nicht näher bestimmter Vogel kommt herangeflogen, setzt sich auf den Mauervorsprung eines Balkons, von dem der Putz bröckelt. Er reckt seinen Kopf in die Höhe, streckt den Hals in die Länge und stößt einen heiseren Schrei aus, und als dieser verklungen ist, plustert er sich erst auf, staucht dann seinen kleinen Körper zusammen und kackt.
Unter dem Balkon stehen zwei Männer.
Der Vogelschiss fällt auf einen der beiden, ohne dass sie es bemerken. Dann gehen sie weiter an eine Wand, die dick überrankt ist von Efeu. Schnitt.
Der eine trug Jeans und ein weißes T-Shirt, das leicht über dem Bauch spannte, er war groß, trug das Haar kurz und sein Bart war leicht ergraut. Seine Augen glänzten metallic-grün, von kleinen Krähenfüßen verziert. Er war verschwitzt, sein Shirt hatte Flecken nicht nur unter den Achseln, auch auf dem Rücken, er schwitzte überall. Und er lächelte den anderen an. Der andere war ein wenig kleiner, ein wenig jünger, sein Bart etwas dunkler, er hatte ein enges kariertes Hemd angezogen, weit aufgeknöpft, und trug breite schwarze Lederarmbänder, an jedem Handgelenk eines. Auch ihm rann der Schweiß den Rücken hinunter, und er lächelte zurück.
Dieser andere war ich. Eigentlich hatte ich Sex gesucht, aber nun stand ich da, vorm Friedhof. Um genau zu sein, hinter dem Friedhof.
Wir hatten gechattet, und Johannes hatte gesagt, dass ich mich überraschen lassen sollte, irgendwas draußen, Treffpunkt am S-Bahnhof. Ich dachte wir trieben es im Park, doch stattdessen standen wir am Efeu der rückwärtigen Friedhofsmauer. An jenem Sommerabend war es übrigens nicht nur heiß, sondern auch schwül, sehr schwül, sodass mir der Schweiß den Rücken hinabrann, über den Hintern, die Beine hinunter. Und Johannes erst – er roch. Nach Achselschweiß, nach Speichel – Lust.
„Du kennst den Friedhof?“, fragte er mich.
Der Efeu war ganz groß. Blätter über Blätter, auf denen die Sonne tanzte, sie schimmerten in allen erdenklichen Dunkelgrüntönen, und Johannes trat nah an mich heran. Seine Stimme hatte einen warmen und tiefen Klang:
„Auf diesem Friedhof ist jeder schon gewesen, und viele kommen noch hin.“
Erst hielt er mein Kinn in seinen Händen, dann ließ er eine Hand an meinen Arsch gleiten und zog mich mit sich. Wir drehten uns, verwickelten uns im Efeu, mein Blick fiel noch kurz auf einen Balkon gegenüber, dort stand jemand und sah herüber zu uns, es hätte das Kind sein können, ganz genau war es aber nicht zu erkennen, denn alles verschwand im Efeu.
„Ich will dir was zeigen“, flüsterte Johannes und grinste.
„Darf ich es auspacken?“, fragte ich mit einem Griff an seine Hose.
„Später“, gab er zurück, und dann raunte er mir zu: „Erst will ich dir noch etwas anderes zeigen.“
Seine Zunge umspielte dabei meinen Hals. Sein Kopf roch salzig. Noch nie zuvor hatte ich eine so warme Zunge auf meinem Hals gespürt, und noch nie eine, die so viel Speichel auf mir hinterließ.
„Ich zeige dir mein Grab.“
Ich fand das überflüssig. Wir steckten mitten im Efeu, dies wäre ein guter Ort für Sex gewesen. Niemand hätte uns gesehen, es wurde ja auch dunkel. Und dann kam mir ein beunruhigender Gedanke: „Der Friedhof ist doch schon geschlossen.“
Er grinste wieder. Dabei netzte er seine Lippen mit der Zungenspitze, auf der der letzte Rest an Abendsonne funkelte.
Und plötzlich war es Nacht geworden.
„Und wie kommen wir rein?“, wollte ich wissen. Das Beunruhigende an dem Gedanken, die Friedhofsruhe zu stören, begann sich in der Umarmung mit diesem Mann gänzlich aufzulösen.
„Das ist ein Märchenfriedhof, wie ein jeder weiß“, sagte er und betonte den letzten Halbsatz, als würde er ein Adventsgedicht aufsagen. „Da helfen gute Geister. Es gibt eine Stelle an der Mauer, die liegt so versteckt, dass man sie nur mit ihrer Hilfe findet, und auch das gelingt nicht immer“, fuhr er noch fort. „Gute Geister?“, staunte ich, aber da drückte er schon seinen Schritt fester gegen meinen, und die Geister begannen im Schritt zu pochen, und dann pochte es hin und es pochte her, und dann waren wir drin.
Schnitt. Mondschein auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Die weitausladenden Kronen der Ulmen überdachen ein Stück des langen Mittelwegs hügelab. An den vielen Gräbern vorbei, die Erhabenheit aushauchen, vorüber an alten Familiengruften, von Geschlechtern, die längst den Faden verloren haben. Hier ruhet, steht hier. Tapfer dort, auf immer, ex coelis, so spricht der Herr. Jahreszahlen des Kommens und Gehens, vor langer Zeit, einhundert, zweihundert Jahre fast sind es her. Es war einmal. Der schnurgerade Weg führt ruhig und sanft zum Café am Eingang. Dort gibt es selbstgebackene Kuchen, in Puppenstubenatmosphäre, mit Nippes und Einkehr und Trost und Kaffee aus Sammeltassen. Nicht jetzt, es ist geschlossen, es ist ja Nacht.
Auf den Gräbern herrscht Leben. Zwar schlafen viele Tiere, aber etwas raschelt immer im Gebüsch. Im Sternengarten, wo die Kleinsten liegen, spielen Puppen und Teddys mit Kinderspielzeug. Aber nicht nur dort. Überall. Hier liegen die, die starben, als das Große Sterben umging, als es einen nach dem anderen riss. Der Mond zaubert Regenbogen auf die Grabsteine, auf Inschriften, die von der Liebe zu Irdischem reden, zu sehr Irdischem, auf frische Blumen in Stilettos. Auf Buddhas, auf Kens, auf tibetische Gebetsfähnchen, die unbeweglich in der windstillen Nacht hängen.
Da sind die Gräber der Gebrüder Grimm. Schlicht, da liegt Jacob, dort liegt Wilhelm, weiße Lettern in schwarzem Granit, der unerschütterlich emporragt. Hierher kommen Touristen, machen Fotos und bringen ihre Bücher mit und legen einen Stein ab. Viele Japaner. Nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Da ist das Grab Rio Reisers mit einem Bild von ihm, das ihn sehr jung zeigt, sein Stein erhebt sich aus dem Gras, bevölkert von bunten Figürchen, auch die Krone fehlt nicht. Es sprießen bunte Wiesenblumen, und in denen steckt dezent ein kleines Fläschchen mit etwas zu trinken. Hier gibt es schon mal ihm zu Gedenken Tunten-Defilee und Blaskappelle, man spielt seine Songs, hält Andacht und feiert. Aber nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Der Mond scheint auf all diese Gräber, die historischen und die neuen, bunten, mit Plüsch und Glasmosaiken, die gestylten, die so viele sich kaufen, wo sie sich einkaufen, auch anteilig, auch viele Männer, als ihre Heimstatt für danach.
An einem Seitenweg liegt eine Mustergrabstelle, gepflegt und bepflanzt mit Lobelien und Zauberglöckchen, und auf einem Schild steht zu lesen: „Dies könnte Ihr Grab sein“. Das Mondlicht lässt die Inschrift des Mustergrabsteins leuchten: „Die Sonne scheint allen.“ Bei Interesse bei der Verwaltung melden, aber nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Tiefe Nacht ist es, und von ein paar Grabstätten weiter, von dort hört man es stöhnen. Johannes präsentiert seinen Grabstein, in den der Name „Johannes“ und sein Geburtsdatum graviert sind, nur das Sterbedatum fehlt. Johannes hat sich hinter den anderen gestellt, ihm das karierte Hemd vollends aufgeknöpft, drängt sich immer weiter an ihn, und der Mond wirft ein weiches Licht auf die Männer mit heruntergelassenen Hosen, die auf dem feuchten Gras in weichen Bewegungen zu schweben scheinen, in innigen Bewegungen, in denen Johannes den Mann vor sich Stück um Stück seinem eigenen Grabstein entgegenschiebt.
Die Toten geben keinen Mucks von sich, die Untoten auch nicht, die Tiere halten sich zurück, nur das Stöhnen des Mannes in Johannes’ Arm wird lauter, und der erdige Geruch, der aufsteigt, erregt. Johannes lässt seine Fingerspitzen tänzeln, über das Brusthaar, den Bauch, in ein krauses Büschel Schamhaare.
„Gib mir dein Bestes“, flüstert er dem andern zu und greift mit seinen schweißnassen Fingern dessen Schwanz.
Schnitt.
Das hat er tatsächlich gesagt, das mit dem Besten. Mehrfach, während dieser bitter-salzige Geruch von Schweiß und Erde in meine Nase eindrang, und sich mir auf den Gaumen legte und er mir einen runterholte. Dein Bestes. Ich habe genau hingesehen, es war ja eine sternklare Nacht, und der Mond schien hell. Die Sterne hielten einfach nicht still, ständig funkelte und flackerte einer, sie verbreiteten Unruhe, wenn man genau hinsah. Sternschnuppen schossen ins Leere, denn das dort oben war weit, und selbst wenn man den Kopf noch so weit drehte und meinte, mit seinem Blick Lichtjahre abzumessen, so ließ man sich täuschen. Der Himmel war nicht zu erfassen, die Augen als Sehorgan reichten nicht aus. Immer kamen neue Sterne hinzu, einer hinter dem anderen, wo ein dunkler Fleck gewesen zu sein schien, sprenkelte es neues Licht, was meine Orientierung aussetzen ließ, denn nach Großem und Kleinem Wagen, Polarstern und Kassiopeia hatte ich mich verirrt. Wenn man dort hinaufspringen könnte, käme man niemals zurück aus der Endlosigkeit, weil es immer nur vorwärts ginge.
In mir aber verkrampfte es sich für ein paar Augenblicke, und plötzlich stieß ein dichter, dicker Schwall hervor, dann noch einer.
Mein Bestes. Ich hinterließ ihm einen riesigen Fleck auf seinem Stein, genau dort, wo noch Platz für das Sterbedatum war. Der Geruch des Sekrets stach den Erdgeruch aus. Johannes verlor keine Zeit, sank auf die Knie, wobei er einen leichten Krampf in der Wade hatte, und das Bein kurz ausschütteln musste – und während im Sternenschein der schleimige Fleck begann, zäh am Granit herabzurinnen, streckte er seine feuchtglänzende Zunge langsam danach aus.
Mein schwules Auge Berlin Gay Metropolis Special, konkursbuch Verlag, Tübingen 2019