Hinter der Mustergrabstelle

Ein heißer Sommerabend, draußen, hell. Die Dächer einer Stadt, eine gerade Asphaltspur. Schnitt. Die Gleise einer S-Bahn-Linie. Den Himmel über alledem kann kein Wässerchen trüben, keine Wolke weit und breit, blau, dunkelblau, vielleicht zu dunkles Blau. Tiefes, dunkles Blau. Schnitt.
Eine lange gerade Straßenflucht, links und rechts Altbauten, grau und trostlos. Früher einfach grau und trostlos, heute grau und hipp und deshalb trostlos. Schnitt. Ein Kind mit einem Buch in der Hand kommt die Straße entlang, überquert ohne nach links oder rechts zu schauen einen Zebrastreifen. Es sieht müde aus. Es hat Sommersprossen, könnte Mädchen wie Junge sein. Es verschwindet in einem Hauseingang.
Dann ist nichts. Das lange Atmen einer vorbeifahrenden S-Bahn, das in der Abendluft verhallt. Stille. Schnitt. Der Himmel ist noch weiter, das dunkle Blau noch tiefer. Ein Auto kommt, der Motor brummt, es fährt vorüber, dann ist es weg. Menschenleere. An den Balkonen der Altbaufassaden hängen keine Blumen, wenn doch, sind sie mickrig.
Ein nicht näher bestimmter Vogel kommt herangeflogen, setzt sich auf den Mauervorsprung eines Balkons, von dem der Putz bröckelt. Er reckt seinen Kopf in die Höhe, streckt den Hals in die Länge und stößt einen heiseren Schrei aus, und als dieser verklungen ist, plustert er sich erst auf, staucht dann seinen kleinen Körper zusammen und kackt.
Unter dem Balkon stehen zwei Männer.
Der Vogelschiss fällt auf einen der beiden, ohne dass sie es bemerken. Dann gehen sie weiter an eine Wand, die dick überrankt ist von Efeu. Schnitt.

Der eine trug Jeans und ein weißes T-Shirt, das leicht über dem Bauch spannte, er war groß, trug das Haar kurz und sein Bart war leicht ergraut. Seine Augen glänzten metallic-grün, von kleinen Krähenfüßen verziert. Er war verschwitzt, sein Shirt hatte Flecken nicht nur unter den Achseln, auch auf dem Rücken, er schwitzte überall. Und er lächelte den anderen an. Der andere war ein wenig kleiner, ein wenig jünger, sein Bart etwas dunkler, er hatte ein enges kariertes Hemd angezogen, weit aufgeknöpft, und trug breite schwarze Lederarmbänder, an jedem Handgelenk eines. Auch ihm rann der Schweiß den Rücken hinunter, und er lächelte zurück.
Dieser andere war ich. Eigentlich hatte ich Sex gesucht, aber nun stand ich da, vorm Friedhof. Um genau zu sein, hinter dem Friedhof.
Wir hatten gechattet, und Johannes hatte gesagt, dass ich mich überraschen lassen sollte, irgendwas draußen, Treffpunkt am S-Bahnhof. Ich dachte wir trieben es im Park, doch stattdessen standen wir am Efeu der rückwärtigen Friedhofsmauer. An jenem Sommerabend war es übrigens nicht nur heiß, sondern auch schwül, sehr schwül, sodass mir der Schweiß den Rücken hinabrann, über den Hintern, die Beine hinunter. Und Johannes erst – er roch. Nach Achselschweiß, nach Speichel – Lust.
„Du kennst den Friedhof?“, fragte er mich.
Der Efeu war ganz groß. Blätter über Blätter, auf denen die Sonne tanzte, sie schimmerten in allen erdenklichen Dunkelgrüntönen, und Johannes trat nah an mich heran. Seine Stimme hatte einen warmen und tiefen Klang:
„Auf diesem Friedhof ist jeder schon gewesen, und viele kommen noch hin.“
Erst hielt er mein Kinn in seinen Händen, dann ließ er eine Hand an meinen Arsch gleiten und zog mich mit sich. Wir drehten uns, verwickelten uns im Efeu, mein Blick fiel noch kurz auf einen Balkon gegenüber, dort stand jemand und sah herüber zu uns, es hätte das Kind sein können, ganz genau war es aber nicht zu erkennen, denn alles verschwand im Efeu.
„Ich will dir was zeigen“, flüsterte Johannes und grinste.
„Darf ich es auspacken?“, fragte ich mit einem Griff an seine Hose.
„Später“, gab er zurück, und dann raunte er mir zu: „Erst will ich dir noch etwas anderes zeigen.“
Seine Zunge umspielte dabei meinen Hals. Sein Kopf roch salzig. Noch nie zuvor hatte ich eine so warme Zunge auf meinem Hals gespürt, und noch nie eine, die so viel Speichel auf mir hinterließ.
„Ich zeige dir mein Grab.“
Ich fand das überflüssig. Wir steckten mitten im Efeu, dies wäre ein guter Ort für Sex gewesen. Niemand hätte uns gesehen, es wurde ja auch dunkel. Und dann kam mir ein beunruhigender Gedanke: „Der Friedhof ist doch schon geschlossen.“
Er grinste wieder. Dabei netzte er seine Lippen mit der Zungenspitze, auf der der letzte Rest an Abendsonne funkelte.
Und plötzlich war es Nacht geworden.

„Und wie kommen wir rein?“, wollte ich wissen. Das Beunruhigende an dem Gedanken, die Friedhofsruhe zu stören, begann sich in der Umarmung mit diesem Mann gänzlich aufzulösen.
„Das ist ein Märchenfriedhof, wie ein jeder weiß“, sagte er und betonte den letzten Halbsatz, als würde er ein Adventsgedicht aufsagen. „Da helfen gute Geister. Es gibt eine Stelle an der Mauer, die liegt so versteckt, dass man sie nur mit ihrer Hilfe findet, und auch das gelingt nicht immer“, fuhr er noch fort. „Gute Geister?“, staunte ich, aber da drückte er schon seinen Schritt fester gegen meinen, und die Geister begannen im Schritt zu pochen, und dann pochte es hin und es pochte her, und dann waren wir drin.
Schnitt. Mondschein auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Die weitausladenden Kronen der Ulmen überdachen ein Stück des langen Mittelwegs hügelab. An den vielen Gräbern vorbei, die Erhabenheit aushauchen, vorüber an alten Familiengruften, von Geschlechtern, die längst den Faden verloren haben. Hier ruhet, steht hier. Tapfer dort, auf immer, ex coelis, so spricht der Herr. Jahreszahlen des Kommens und Gehens, vor langer Zeit, einhundert, zweihundert Jahre fast sind es her. Es war einmal. Der schnurgerade Weg führt ruhig und sanft zum Café am Eingang. Dort gibt es selbstgebackene Kuchen, in Puppenstubenatmosphäre, mit Nippes und Einkehr und Trost und Kaffee aus Sammeltassen. Nicht jetzt, es ist geschlossen, es ist ja Nacht.
Auf den Gräbern herrscht Leben. Zwar schlafen viele Tiere, aber etwas raschelt immer im Gebüsch. Im Sternengarten, wo die Kleinsten liegen, spielen Puppen und Teddys mit Kinderspielzeug. Aber nicht nur dort. Überall. Hier liegen die, die starben, als das Große Sterben umging, als es einen nach dem anderen riss. Der Mond zaubert Regenbogen auf die Grabsteine, auf Inschriften, die von der Liebe zu Irdischem reden, zu sehr Irdischem, auf frische Blumen in Stilettos. Auf Buddhas, auf Kens, auf tibetische Gebetsfähnchen, die unbeweglich in der windstillen Nacht hängen.
Da sind die Gräber der Gebrüder Grimm. Schlicht, da liegt Jacob, dort liegt Wilhelm, weiße Lettern in schwarzem Granit, der unerschütterlich emporragt. Hierher kommen Touristen, machen Fotos und bringen ihre Bücher mit und legen einen Stein ab. Viele Japaner. Nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Da ist das Grab Rio Reisers mit einem Bild von ihm, das ihn sehr jung zeigt, sein Stein erhebt sich aus dem Gras, bevölkert von bunten Figürchen, auch die Krone fehlt nicht. Es sprießen bunte Wiesenblumen, und in denen steckt dezent ein kleines Fläschchen mit etwas zu trinken. Hier gibt es schon mal ihm zu Gedenken Tunten-Defilee und Blaskappelle, man spielt seine Songs, hält Andacht und feiert. Aber nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Der Mond scheint auf all diese Gräber, die historischen und die neuen, bunten, mit Plüsch und Glasmosaiken, die gestylten, die so viele sich kaufen, wo sie sich einkaufen, auch anteilig, auch viele Männer, als ihre Heimstatt für danach.
An einem Seitenweg liegt eine Mustergrabstelle, gepflegt und bepflanzt mit Lobelien und Zauberglöckchen, und auf einem Schild steht zu lesen: „Dies könnte Ihr Grab sein“. Das Mondlicht lässt die Inschrift des Mustergrabsteins leuchten: „Die Sonne scheint allen.“ Bei Interesse bei der Verwaltung melden, aber nicht jetzt, denn es ist Nacht.
Tiefe Nacht ist es, und von ein paar Grabstätten weiter, von dort hört man es stöhnen. Johannes präsentiert seinen Grabstein, in den der Name „Johannes“ und sein Geburtsdatum graviert sind, nur das Sterbedatum fehlt. Johannes hat sich hinter den anderen gestellt, ihm das karierte Hemd vollends aufgeknöpft, drängt sich immer weiter an ihn, und der Mond wirft ein weiches Licht auf die Männer mit heruntergelassenen Hosen, die auf dem feuchten Gras in weichen Bewegungen zu schweben scheinen, in innigen Bewegungen, in denen Johannes den Mann vor sich Stück um Stück seinem eigenen Grabstein entgegenschiebt.
Die Toten geben keinen Mucks von sich, die Untoten auch nicht, die Tiere halten sich zurück, nur das Stöhnen des Mannes in Johannes’ Arm wird lauter, und der erdige Geruch, der aufsteigt, erregt. Johannes lässt seine Fingerspitzen tänzeln, über das Brusthaar, den Bauch, in ein krauses Büschel Schamhaare.
„Gib mir dein Bestes“, flüstert er dem andern zu und greift mit seinen schweißnassen Fingern dessen Schwanz.
Schnitt.
Das hat er tatsächlich gesagt, das mit dem Besten. Mehrfach, während dieser bitter-salzige Geruch von Schweiß und Erde in meine Nase eindrang, und sich mir auf den Gaumen legte und er mir einen runterholte. Dein Bestes. Ich habe genau hingesehen, es war ja eine sternklare Nacht, und der Mond schien hell. Die Sterne hielten einfach nicht still, ständig funkelte und flackerte einer, sie verbreiteten Unruhe, wenn man genau hinsah. Sternschnuppen schossen ins Leere, denn das dort oben war weit, und selbst wenn man den Kopf noch so weit drehte und meinte, mit seinem Blick Lichtjahre abzumessen, so ließ man sich täuschen. Der Himmel war nicht zu erfassen, die Augen als Sehorgan reichten nicht aus. Immer kamen neue Sterne hinzu, einer hinter dem anderen, wo ein dunkler Fleck gewesen zu sein schien, sprenkelte es neues Licht, was meine Orientierung aussetzen ließ, denn nach Großem und Kleinem Wagen, Polarstern und Kassiopeia hatte ich mich verirrt. Wenn man dort hinaufspringen könnte, käme man niemals zurück aus der Endlosigkeit, weil es immer nur vorwärts ginge.
In mir aber verkrampfte es sich für ein paar Augenblicke, und plötzlich stieß ein dichter, dicker Schwall hervor, dann noch einer.
Mein Bestes. Ich hinterließ ihm einen riesigen Fleck auf seinem Stein, genau dort, wo noch Platz für das Sterbedatum war. Der Geruch des Sekrets stach den Erdgeruch aus. Johannes verlor keine Zeit, sank auf die Knie, wobei er einen leichten Krampf in der Wade hatte, und das Bein kurz ausschütteln musste – und während im Sternenschein der schleimige Fleck begann, zäh am Granit herabzurinnen, streckte er seine feuchtglänzende Zunge langsam danach aus.


Mein schwules Auge Berlin Gay Metropolis Special, konkursbuch Verlag, Tübingen 2019

Wie es kam, dass ich mich infiziert habe

Mein schwules Auge 7, konkursbuch Verlag, Tübingen 2010

Es war ein sonniger Tag. Der erste Tag im Jahr, an dem die Leute die Jacke, die sie morgens angezogen haben, ab dem Vormittag über die Schulter hängen und die Sonnenstrahlen durch ihr Hemd, an dem sie vielleicht die Krawatte lockern und einen Knopf öffnen, auf den Oberkörper lassen. Ein Tag, an dem die Nippel etwas sichtbarer hervorstechen.  

Jeder kennt solche Tage. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es wirklich der erste warme Tag im Jahr ist; es ist ein Tag, der einem so vorkommt. Aus den Bäumen brechen die Blätter hervor, und wenn man in einem Café sitzt, fällt einem eine grasgrüne Raupe in den Schoß. Man schnippt sie sich von der Jeans, und dieses Schnippen geht durch den Schenkel, ziept kurz im Magen und versetzt einem einen kleinen Stich in die Nippel, so wie man sich das an den Nippeln der anderen vorstellt, die mit lockerem Schritt an einem vorübergehen, einem Schritt, den man sich heute genauer ansieht als noch an den kühleren Tagen zuvor.

An so einem Tag habe ich mich infiziert.

Und an einem ebensolchen Tag, viele Jahre zuvor, hatte ich auch meine erste Erektion. Als ich sieben war. Oder acht. 

Im Stern, der bei uns zu Hause abonniert war, gab es ein Fotospezial zum Thema Polaroids und das damals neue SX-70-System.  Ich begriff nicht vollständig, was ein Polaroid war, auch wenn meine Eltern leidenschaftlich darüber diskutierten, ob das nun die Zukunft der Fotografie wäre oder nur ein Rohrkrepierer.

Meine Zukunft lag auf dem Titelblatt jenes Sterns. Es zeigte eine wunderschöne, gut gekleidete Frau mit der faltbaren SX-70-Spiegelreflexkamera, die sie in der Hand, und mit einem Foto, das sie zwischen ihren kirschroten Lippen hielt: darauf ein Mann, aufgenommen in dem Ausschnitt zwischen Knien und Brust, der nichts weiter trug als Haut und Haar. Das Geschlecht bedeckte er mit seinen Händen, und es sah so aus, als habe er es fest im Griff. Den Stern durchblätterte ich damals regelmäßig, bis zur Kinderseite Sternchen im hinteren Viertel. Aber jetzt betrachtete ich nur das Titelblatt, verstohlen, denn es war ja klar, dass es verboten war. Weil es mich so merkwürdig erregte. Schließlich tat ich so, als würde ich die Sternchen-Seite suchen, und dabei durchsuchte ich doch nur die mit römischen Ziffern nummerierten Seiten des Fotospezials nach mehr von diesem Mann. Vergeblich. So viel männlicher Körper wie auf dem Titelblatt war im gesamten Heft nicht zu finden. 

Ich ging ins Bad, ließ die Hose runter und legte die Hände über mein Geschlecht, genau wie dieser Mann, und betrachtete mich in der Abdeckung der Klopapierhalterung. Die war aus Metall und gewölbt und ließ meine Oberschenkel kräftiger aussehen. Im Polaroid lag eine Botschaft, das spürte ich, und ich wollte sie entschlüsseln. So griff ich zu, drückte, Hände über- und  nebeneinander, bis er wuchs und endlich steif war. Meine erste Erektion.

Die Zeit verging mit neuen Folgen von Lemi und die Schmöker, den neuen Asterix-Heften und unzähligen Erektionen, Streichelungen, Berührungen, allein und mit meinen Cousins.

Und irgendwann kam ich. Aus Versehen. Da lag es auf meinem Bauch. Weiß, schleimig. Unheimlich. Aber ich war kein Angsthase, ich probierte es. Und es hat mir gut geschmeckt.

Entgegen dem, was man vermuten könnte, habe ich immer aufgepasst. Und es fiel mir auch nicht schwer. Ich war verliebt, lernte küssen, hatte Sex und sah Pornos – meist heterosexuelle, die waren zugänglicher – in denen Frauen keuchend stöhnten und die Schwänze, aus denen es in ihre Gesichter spritzte, sauber leckten; Bilder, die mich kurz erhitzten, ohne mir tief unter die Haut zu gehen. 

Dann kam der erfahrene Mann, der mir mit gutem Zureden (ich bin ganz vorsichtig), erfahrenen Handlungsanweisungen (du musst  gar nichts weiter tun als dich einfach zu entspannen),  und vernünftigen Argumenten, denen ich mich nicht verschließen konnte (komm schon, deswegen bist du doch mitgekommen) die bis dahin unbekannten Muskeln tief in meinem Inneren näher brachte. 

Im Grunde aber musste ich gar nicht aufpassen. Ich befolgte ja nur einfache Regeln. Wie die, dass man nicht in Steckdosen fasst, sich nicht in der Badewanne fönt und nicht einschläft, solange die Kerzen auf dem Nachttisch noch brennen.

So stand ich im zarten Alter von Mitte zwanzig in einer Kaschemme am Eingang zum Darkroom, mit dem x-ten Bier in der Hand  gegen die Wand gelehnt. Von der Wand neben dem Tresen flackerten Pornos und ich begutachtete den Testosteronspiegel derer, die im Dunkel verschwanden, immer auf dem Sprung. Doch plötzlich erregte ein Film meine Aufmerksamkeit: zwei Typen, die aussahen, als hätten sie sich im Studio 54 aufgegabelt, zogen sich Hemden mit langen Kragen und enge Jeans mit weitem Schlag aus, holten aus dem Küchenschrank zwei flache schwarze Teller und stellten sie auf den Tisch. Einige Einstellungen waren unscharf, alle waren rot- und blaustichig, wie alte Polaroids, die man längst in irgendeiner Schublade vergessen hat. Ich konnte nicht mehr davon lassen. Die beiden rammelten sich unter den Hängeschränken, um die Kaffeemaschine, über dem Spülbecken, gegen den mannshohen amerikanischen Kühlschrank. Als ihre Zeit gekommen war, stellten sie sich einander gegenüber an den Tisch, wichsten und spritzten schließlich, ohne dass ein Tropfen daneben ging, ihre geballten Ladungen jeder auf einen Teller, appetitlich angerichtet, weiß auf schwarzem Porzellan. Und dann tauschten sie die Teller aus und leckten sie langsam ab.

Ich leckte mit. Jeden Tropfen ließ ich tief durch meine Kehle rinnen. Und in den folgenden Jahren tat ich es immer wieder; erst nur, wenn ich Sex hatte, egal wie, mit wem und wo, später auch immer, wenn mir jemand nur über den Weg lief, auf den ich abfuhr: in Gedanken leckte ich jeden Tropfen, den er auf die Laken, auf seinen oder meinen Körper, auf das Email der Badewanne spritzte, jeden Tropfen, der noch an seiner Eichel hing, langsam auf.  

Seit dieser Nacht musste ich aufpassen. Denn seitdem spürte ich einen Drang, von dem ich lernen musste, ihn zu unterdrücken.

Es war 2001, im Frühjahr. An einem langen freien Tag, den ich für mich allein hatte, weil mein Freund verreist war. Morgens meditierte ich, war aber unruhig. Vormittags schlich ich ums Telefon. Griff aber doch nicht zum Hörer. Dann gab ich mir einen Ruck und ging hinaus.

Es war der erste warme Tag im Jahr.

Die Leute waren leicht bekleidet, wer eine Jacke dabei hatte, trug sie über die Schulter und im Sonnenschein stachen die Nippel der Männer etwas deutlicher als sonst hervor. Ich setzte mich in ein Straßencafé, bestellte einen Cappuccino und holte ein Buch hervor – ich habe immer ein Buch dabei – und begann zu lesen. Dabei wartete ich darauf, dass sich aus dem frischen Grün der Bäume die Raupe auf meinen Schoß fallen lassen würde, damit ich sie von meinem Schenkel schnippen könnte. Das tat sie aber nicht. Stattdessen sah ich den vorübergehenden Männern auf den Schritt. Es schoss aus ihren Eicheln wie die Triebe aus den Zweigen, und in dem wunderschönen Roman von Murakami in meiner Hand konnte ich keinem einzigen Satz folgen. Stattdessen leckte ich jeden Tropfen. 

Schließlich schlug ich das Buch zu, ging nach Hause und schlich wieder ums Telefon.

Es war die Zeit der Dating Lines Ich griff zum Hörer, wählte und  hatte schnell eine Verabredung für den Abend.

Ich sollte Bier mitbringen, weil er pissen wollte, ich sollte ihn ficken, und vielleicht wollte noch ein Freund von ihm kommen. Ich war mit allem einverstanden und dachte doch an nichts anders als an die schwarzen Teller, die ich ablecken wollte, und nie ablecken durfte.

Ich nahm die S-Bahn und kaufte zwei Sixpacks im Edeka in seiner Straße. Als ich vor seiner Haustür stand, zögerte ich. Die Abendsonne schien mir ins Gesicht. Sie sah so schön rot aus. Ich könnte einen Spaziergang machen, dachte ich noch. Aber dann sah ich auf die Bierdosen in meiner Hand und ging in den Hausflur.  

Er war groß, schlank und nackt.

Ich hatte gedacht, dass wir sofort übereinander herfallen würden, doch stattdessen plauderte er auf mich ein und führte mich in den hell erleuchteten, quadratischen Flur. Dort setzte ich mich auf einen Stuhl und zog meine Schuhe aus. Dieser Stuhl war aus Pappe, es gab mehrere davon, aus dunklen und hellen gepressten Papplagen. 

Er sah nicht unsympathisch aus, wie er an die Wand gelehnt stand, die Lippen bewegte und sich dabei über den Schwanz strich.

Mitten im Flur stand ein riesiger Tisch, auf dem ein Durcheinander von Papieren herrschte. Je länger ich hinsah, desto mehr Pappschachteln, Plastikröhrchen und Gläschen sah ich aus der Papierflut auftauchen, Tablettenverpackungen aller Art, eine Batterie von Medikamenten, die ich nicht kannte. Ich dachte: Hat er HIV? Vielleicht hat er HIV. Dann war ich mir sicher, dass er HIV hatte.

Ich zog die Jacke aus.

„Kannst du morgen ausschlafen?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich und schob die Bierdosen in die Unordnung auf dem Tisch. Er erzählte von gefühlvollen Kolleginnen, die rücksichtsvoll damit umgehen würden, wenn er morgen nicht fit war.

„Schluckst du?“, fragte er, öffnete zwei Dosen, reichte mir eine, wir prosteten uns zu.

„Mein eigenes schon“, gab ich zurück und versuchte zu grinsen.

„Lecker“, sagte er und wischte sich Bier vom Mund.

Die Deckenlampe warf ein grelles Licht auf die Medikamente, aber ich sah nur, wie wir uns küssten, stöhnten und uns tiefe Stöße versetzten. Und saß regungslos da. Irgendwie schaffte es die Abenddämmerung aber doch noch in den fensterlosen Flur, die Erinnerung daran, wie schön die Welt draußen jetzt sein musste, in Rot getaucht. Draußen war das Leben schön, und hier standen Medikamente. Ich saß wie betäubt ohne Schuhe und Jacke auf dem Pappstuhl und mein halbsteifer Schwanz drückte gegen meine frisch rasierten Eier. Und hatte zugleich Angst.

Ich war seiner Stimme am Telefon gefolgt, hatte Bier gekauft, wollte trinken, pissen, ficken, ihn küssen, hatte eben noch in den Sonnenstrahlen draußen das pralle Leben gespürt, prall wie mein Arsch, meine Schenkel und Lippen.

Der Abendhimmel drang zwar weiter vor, aber alles, was ihm gelang, war, meinen Phantasien einen Rotstich zu versetzen, von dem zwei-, dreimaligem Spermaschwall, den dieser Mann und ich abspritzten. Auf die Pappstühle. Es rann zäh und langsam über die hellen und dunklen Pappschichten. Und wir leckten es, die Stuhlbeine hinauf, über die Sitzflächen, die Lehnen hinab. Lecker!

„Ich muss mal ins Bad“, sagte er und verschwand.

Da saß ich, allein, in einem Flur voller Bierdosen, Pappstühle, Medikamente und ohne Fenster.

Geh jetzt, sagte ich zu mir. Ich hörte es ganz deutlich: Geh jetzt.

Ich hätte Schuhe und Jacke anziehen und gleich gehen können. Ich hätte Schuhe und Jacke anziehen, mich, sobald er aus dem Bad zurückkam, von ihm verabschieden und dann gehen können. Stattdessen blieb ich auf dem Pappstuhl sitzen.

Schluckst du?

Nein!

Er kam aus dem Bad und fragte: „Gehen wir nach nebenan?“

Und wortlos ging ich mit ihm nach nebenan.