Moose Town Trip

Glacier View Hotel

Das Licht hatte er gelöscht, hörte die Vorhänge flattern. Kühle Nachtluft glitt durchs Fenster, auf Schreibtisch, Stuhl und Schrank, alles alt und billig. Er saß angezogen auf dem Bett, sah über die Schuhspitzen hinweg zum Spalt unter der Tür. Licht schimmerte vom Flur herein. Einem langen Flur. Am hintersten Ende war das Zimmer 13. Und das Geräusch: Es gluckste.

***

 

Moose Creek County, Alaska, 1. August, 00:02 h

Gregg warf den Kopf herum und riss die Augen auf. Ein Äderchen platzte. Nichts war zu hören als sein keuchender Atem, er hatte ihn nicht unter Kontrolle. Er kurbelte das Seitenfenster seines alten Dodge Pickups herunter und streckte den Kopf hinaus. Doch da gab es nur noch Totenstille. Und sanftes Mondlicht. Sich beruhigen, runterzählen. Er setzte sich gerade und presste den Rücken in den Sitz: zehn, neun, acht … Er spürte den Zündschlüssel in der durchgefrorenen Hand. Sieben, sechs … den ganzen gottverdammten Highway war er hierher gefahren, bis an die Kurve am Gletscher. War ausgestiegen, über knirschende Kiesel zu den Farnen gegangen, wo das Schmelzwasser von der Gletscherkante in den Bach tropfte und den Creek speiste. Anfangs sah er sie nicht, fror nur in der Kälte, die der Gletscher selbst im Hochsommer ausstrahlte. Erst als der Mond rauskam, schauderte er: die Tropfen, prall, voll. Er beugte sich vor zu einem von ihnen. Da war etwas. Er sah genau hin. Sein Spiegelbild, verzerrt, doch gut zu erkennen: Seitenscheitel, glattrasiert, blass. Zu Dutzenden hingen Schmelzwassertropfen an der Eiskante und in allen sah er sich nun. Wie im Spiegelkabinett, in dem er als Kind gewesen war, nur kleiner. Man musste nah rangehen, um sie zu sehen, ganz nah. Er zog den Kopf zurück, schob ihn wieder vor. Da war er wieder, grinste und sah sich grinsen. Von links nach rechts, in jedem Tropfen. Von links? Er zog den Kopf wieder zurück, schob ihn abermals vor. Sein Abbild links streckte ihm die Zunge heraus. Etwas stimmte hier nicht. Gregg fasste sich an den Kopf: Sein Mund war geschlossen, die Zunge fest an den Gaumen gedrückt. Wie konnte das sein? Im zweiten Tropfen war er wieder normal, glotzte sich selbst erstaunt in die Augen, doch im dritten rümpfte er die Nase.

So etwas tat Gregg nicht.

Nie.

Ungläubig sah er weiter in seine Gesichter. Nummer vier zeigte ihm einen Vogel, fünf wackelte mit den Ohren. Gregg erstarrte. Er glotzte, sie glotzten zurück, oder er glotzte zurück. Aber das war nicht mehr er. Irgendwer sah ihm mit seinen Augen in seine Augen, und er war es nicht. Und dann fingen sie zu lachen an. Die tropfenkleinen Fratzen lachten von der Gletscherkante schallend durch die Nacht – lachten immer lauter und greller, bis der Gletscher erzitterte, bis Gregg selbst zitterte, bis sein Herz raste, er es nicht mehr aushielt, zu seinem Dodge rannte und einstieg.

Aber jetzt war Ruhe. Drei, zwei – dann donnerte der Regen auf ihn nieder. Die Karosserie vibrierte. Gregg versuchte, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken und rutschte ab. Noch einmal. Einen so heftigen Regen hatte er noch nie erlebt. Der Krach war unerträglich.

Endlich fand Gregg die Zündung und startete.

Er legte den Rückwärtsgang ein, wendete und brachte den Dodge auf die Asphaltpiste. Zurück, nichts wie zurück!

Als er die Kurve hinter sich gelassen hatte, trat er aufs Gaspedal. Geradeaus, was der Dodge hergab, durch den ganzen dunklen, lauernden Wald. Am Ortseingangsschild endlich ging er vom Gas. Der Highway fiel zur Brücke über den Creek hin ab, und die war wegen Bauarbeiten zur Hälfte gesperrt. Er bremste ab. Nichts geschah. Gregg stieg voll in die Eisen. Dann knallte es.

Moose Town, Alaska, 1. August, 08.37 h

Er wurde von schrillem Klingeln geweckt. Irgendwann griff er zum Telefonhörer und hielt ihn dorthin, wo er sein Ohr vermutete.

»Gregg?«, fragte jemand am anderen Ende der Leitung.

Gregg murrte. Er erkannte Hanks Stimme und dann fiel ihm ein, dass er den Mechaniker schon um sieben angerufen und gebeten hatte, seinen Dodge von der Brücke abzuschleppen. Danach musste er wieder eingeschlafen sein.

»Also, Gregg. Harvey, er arbeitet für mich seit dreißig Jahren, das weißt du ja. Er sagt, so was 

wie bei deinem Dodge hat er noch nicht gesehen. In dreißig Jahren nicht, Gregg. Und ich auch nicht.«

Gregg schleppte sich aus dem Bett, ging ins Bad und erschrak über das, was er im Spiegel sah.

»Gregg: Wasser.«

Sein linkes Auge war blutrot, der Scheitel zerzaust. Er war 45 Jahre alt, sah älter aus und blass – es war zu kalt gewesen letzte Nacht.

»Es hat geregnet«, sagte er und nieste.

»Wie?«

»Gegossen hat es«, murmelte Gregg, während er den Rasierapparat anstellte, das Telefon von der Linken in die Rechte wechselte und seine Bartstoppeln anging. »Deswegen ist mein Wagen nass, Hank.«

»Im ganzen County hat es seit drei Wochen nicht geregnet. Das einzig Nasse in der Gegend sind Bier und Whiskey im Moose Saloon. Es geht mich nichts an, Gregg, ehrlich, aber … im Fernsehen reden sie von Dürre. In Alaska! Na ja, Gregg, ich spreche nicht von Wasser auf dem Wagen, ich spreche von Wasser im Wagen.«

»Wo?«

Gregg legte den Rasierer beiseite, sein Bartwuchs war nicht stark.

»Gregg, Harvey und ich, wir haben auch mal Durst, und klar, du hast den Sand an der Baustelle über den Haufen gefahren und das sieht der Sheriff gar nicht gern. Aber Harvey hat alles beiseite gefegt. Man sieht nichts mehr. Na ja, also, es hat sich jemand einen üblen Scherz mit dir erlaubt, einen ziemlich üblen sogar und wir meinen, Gregg, du solltest mal mit ihm reden.«

Das Aftershave war alle und Gregg fiel ein, dass er vergessen hatte, im Drugstore neues zu kaufen. »Reden? Mit wem reden?“

„Na, mit dem Sheriff. Dein Dodge hat Wasser im Tank.«

***

Moose Town, Alaska, 30. Juli

»Ihre Rohre sehen vorbildlich aus, Mrs. Ellington«, sagte der Klempner, legte Rohrzangen und Schraubenzieher in den Werkzeugkasten zurück und sah sie mit warmen Augen an. »Kein Schmutz, kein Kalk, weder im Zu- noch im Abfluss. Beneidenswert.«

Martha Ellington sah verlegen zu Boden und war über sich selbst erstaunt. Resolut, stark, seit dreißig Jahren leitende und einzige Angestellte des Moose Town Travel Reisebüros, das Gregg Howard Jr. vor zehn Jahren von seinem Vater, Gregg Howard Sr., übernommen hatte, verstand sie, weit zu denken und mit Menschen umzugehen. Sie stand mit beiden Beinen im Leben. Zwar fühlte sie sich nicht sonderlich; in den letzten Wochen hatte sie schlecht geschlafen, wegen dieser Geräusche, die ihr zu schaffen machten. Doch sonst ging es ihr gut. Und Verlegenheit war nicht ihre Art.

Seine Augen. Vielleicht hätte sie ihn nicht rufen sollen. Und schon gar nicht von den Geräuschen erzählen. Andererseits …

Seit dreißig Jahren ließ sie alle Klempnerarbeiten von Mr. Clyve ausführen. Er kannte sich aus bei ihr, hatte die alte Waschmaschine angeschlossen und auch die jetzige, die Spülmaschine, die sie kaum benutzte – für eine Person war sie im Grunde zu groß –, hatte ihr sogar, als sie vor fünfzehn Jahren die neue Küche kaufte, das Spülbecken verlegt. Er war immer schon freundlich gewesen.

Doch nun sahen seine Augen so warm aus. Sie zwang ihr perfekt geschminktes, rundes Gesicht zu einem Lächeln und rückte die schlichte Perlenkette, mit der sie sich selbst zu ihrem Fünfzigsten beschenkt hatte, zurecht auf dem Kragen ihres dunkelblauen Kostüms.

»Nehmen sie doch bitte etwas Tee, Mr. Clyve.«

Sie schenkte aus der geblümten Kanne ein in die geblümte Tasse auf dem geblümten Wachstuch des Küchentisches.

»Ich habe neue Dichtungen eingesetzt. Hier am Wasserhahn, in der Dusche und an der Toilettenspülung. Die alten waren zwar noch in Ordnung. Aber für alle Fälle. Wollen wir doch mal hoffen, dass Ihre, nun, Beschwerden sich erledigen.«

»Milch? Zucker?«

»Danke.«

Er war grau geworden seit dem Tod seiner Frau – vor wie vielen Jahren war sie noch verstorben? – doch fand Martha, dass er zu den Männern gehörte, denen das Älterwerden stand. Sie reichte ihm die Tasse. Er nahm sie und sah sie wieder so an. Dann öffnete er lächelnd den Mund: »Sind Sie sicher, Martha, dass Sie Geräusche gehört haben?«

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.17 h

Mit puterrotem Kopf und verschwitztem Hemd stieg Gregg vom Rad und lehnte es an die Hauswand. Die Gangschaltung war hinüber und Luft war auch kaum auf den Reifen. Und er war außer Form, bekam einen Bauch. Er stieß die Tür zu Doris’ Diner auf.

»Du fährst Rad?«, fragte Doris, während sie mit der Kaffeekanne zwischen den Tischen ihres halb vollen Lokals herumging. Er murmelte etwas von kaputtem Auto, was sie mit einem aufrichtig mitleidvollen Blick quittierte.

»Und dein Auge?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Ganz rot.«

Sie stellte die Kanne auf den Tresen, rückte ihre gestärkte, weiße Schürze zurecht, dann ihre Brille: »Wie immer?«

An einen Barhocker gelehnt, sah er unsicher auf die Uhr, die zwischen den Regalen voller Kaffeebecher und Milchgläser hing. Doris folgte seinem Blick: »Du bist spät dran.«

»Zum Mitnehmen«, sagte er, nieste, suchte in der Hosentasche nach einem Taschentuch, fand keines und griff sich eine von den Papierservietten auf dem Tresen.

Während Doris Speck briet, den Toast mit Tomaten und kaltem Huhn belegte, sah sie plötzlich zu ihm auf. In die Grübchen zwischen ihren feingezogenen Brauen, die unter dem blonden Pony hervorschauten, legte sich Sorge: »Geht es Martha besser?«

 

***

 

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Als er fort war, nahm Martha eine Kopfschmerztablette und wischte den Küchentisch. Vorbildlich also waren ihre Rohre, sauber… »Sind Sie sicher, Martha, dass Sie diese Geräusche gehört haben?« »Oh ja, Mr. Clyve«, hätte sie sagen und ihre Hand auf seine Hand legen sollen. »Es klingt wie ein Lachen, wie unbeschwertes Lachen.«

Sie wusch den Lappen aus und hängte ihn an seinen Haken. Und lauschte – nichts als die seit Jahrzehnten vertraute Stille. Sorgsam nahm sie das Teegeschirr, um es zu spülen.

Es ging ihr wirklich nicht gut. Obwohl es jetzt still war. Sie verstand sich nicht.

»Sind Sie sicher, Martha, dass Sie diese Geräusche gehört haben?« »Sie haben wohl recht, Mr. Clyve«, hatte sie geantwortet, »wo doch alles in Ordnung ist.« »Alle Rohre sind völlig in Ordnung, Martha«, hatte er geantwortet. Und den Tee getrunken. Und nun war wieder Stille.

Als sie sich mit der Tasse über das Spülbecken beugte, hing dort am Wasserhahn ein Tropfen. Sie sah hinein und sah ein Gesicht. Rund, mit geschminktem Mund, um den Hals eine Perlenkette. Ihre Perlenkette. Es war ihr Gesicht. Dann fing ihr Gesicht im Tropfen zu lachen an. Martha ließ die Tasse fallen, die im Spülbecken zersprang, schnitt sich an einer Scherbe, zog den Oberkörper zurück, sah zum Küchentisch, zur Kanne, zum Wachstuch. Dieses Gesicht lachte. Durchdringend und unbeschwert lachte das Gesicht aus dem Wassertropfen.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.21 h

Mit einem Pappbecher und seinen Hühnchensandwiches in einer braunen Papiertüte, hastete Gregg aus dem Diner und lief Mrs. Sayers vom Friseursalon in die Arme.

»Mr. Howard! Ihr Auge …«

»Kleines Missgeschick.« Er nieste, zweimal, nestelte die eben benutzte Serviette aus der Hosentasche hervor, schnupfte und warf das Papier in den Mülleimer am Straßenrand.

»Oh, Mr. Howard.« Mrs. Sayers stemmte energiegeladen den Arm in die Hüfte, kräuselte ihre Oberlippe bis hinauf zu ihrer sorgfältig gepuderten Nase und entspannte sie dann wieder zu einem untadeligen Lächeln: »Mr. Howard, ist Martha zurück?«

»Höchstens noch ein, zwei Tage, leichte Sommergrippe, nichts Ernstes.«

Er sah ihren spitzen Ellenbogen, der durch den Ärmel ihrer Bluse drückte, und ihn fröstelte.

»Wo sie immer so robust ist. Sie hat mir aber auch gar nicht gefallen, letzten Samstag beim Bingo. Da war es bestimmt schon im Anzug. Natürlich hat sie sich nichts anmerken lassen, sie ist immer so tapfer, aber ich bitte Sie, ich frisiere Martha seit dreißig Jahren, ich weiß, wann sie angespannt ist. Richten Sie Grüße aus. Und dass ich sie jederzeit dazwischenschiebe. Es ist so wichtig, sich wohlzufühlen, und schön. Die Ärmste. Es ist aber auch die Zeit für so eine Sommergrippe.«

Gregg wollte sich gerade zwischen zwei Autos auf die andere Straßenseite retten, als es neben der Tür zu Doris’ Diner schepperte.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Martha beugte sich vor. Ihr Gesicht begann sich zu wandeln. Oder der Tropfen selbst, sie sah nicht mehr klar. Wie in dem Kaleidoskop, das sie als Kind gehabt hatte, schob sich dort ein Gesicht neben das andere. Sie sah es nur, wenn sie ganz nahe ranging. Alte, junge, dutzende und sie sah ihnen allen in die Augen: grüne, blaue, braune, geradeaus guckende, schielende, zwinkernde, unter buschigen oder gezupften Brauen sitzende. Dazwischen Nasen: breite, zierliche, lange. Was sie da sah, war Menschen nicht unähnlich, im Grunde waren die Gesichter wie die der Leute aus Moose Town, schoss es Martha durch den Kopf. Nur, dass sie dieses Gelächter verbreiteten. Und dann taten sie noch etwas, was die der Menschen in Moose Town noch nie getan hatten: sie verschwammen ineinander, lösten ihre Haut auf und zerflossen eins ins andere. Einige hatten nun mehrere Augen und Münder, andere trennten sich wieder wie in einem harmonischen Tanz. Dabei nahmen sie sich gegenseitig allerlei weg: wo eben noch eine Stupsnase gewesen war, war nun eine hakige und umgekehrt. Feines, langes Haar, getauscht gegen Bartstoppeln. Andere, die restlos verschmolzen, trennten sich nicht, hatten nun vier Augen, zwei Münder. Und alle lachten immer lauter in diesem Tropfen, der am Hahn hing. Martha hielt es nicht mehr aus und drehte das Wasser auf.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.22 h

Sein Fahrrad war umgefallen, gegen Doris’ Fenster. Aus dem Augenwinkel sah Gregg, wie Doris vor die Tür trat. Dann rannte er über die Straße, schloss die Tür zum Reisebüro auf, griff sich die Post, die der Briefträger durch den Türschlitz auf den Boden geworfen hatte, setzte sich an den Schreibtisch, stellte Kaffeebecher und Sandwichtüte ab und blickte durch das Schaufenster auf die andere Straßenseite: Doris und Mrs. Sayers steckten die Köpfe zusammen. Sie sahen so aus, wie er sich fühlte – ratlos. So fischte Gregg aus dem Poststapel, den er vom Boden geklaubt hatte, den Brief hervor. Als Absender stand dort nur Glacier View Hotel. Er sah noch einmal durchs Fenster: Doris stellte sein Rad auf – und der Sheriff trat hinzu. Wieder betrachtete Gregg den Brief, zitterte, fror. Die Handschrift hatte er längst erkannt, akkurat, präzise, seit zehn Jahren sah er sie jeden Tag. Es war Marthas.

Dann klingelte das Telefon.

 

***

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Das Wasser verschwand glucksend im Abfluss und augenblicklich war es still. Erst sah Martha auf die Scherben in der Spüle, dann zum Küchentischwachstuch, und wieder auf die Scherben. Blut tropfte von ihrer Hand. Es war durchsichtig, wässrig. Sie war müde, seit Wochen müde. Warum glaubte Mr. Clyve ihr nicht? Warum hatte sie ihm nicht alles gesagt? Martha starrte auf ihre Hand. Sie löste sich auf. Eine Träne rann aus ihrem linken Auge, bald auch aus dem rechten, und schließlich ergossen sie sich aus beiden. Sie rissen Marthas Schminke mit sich, tropften auf den Kragen ihrer dunkelblauen Jacke und lösten die Fäden. Sie selbst löste sich auf.

Dann erklang das Gelächter aus dem Bad. Ohne nachzudenken band Martha sich das geblümte Küchenhandtuch um die Wunde und lief hinüber.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 1. August, 09.23 h

Der Sheriff zog den Revolvergürtel zurecht, die Augenbrauen hoch und überquerte langsam die Straße, direkt auf ihn zu. Hektisch riss Gregg den Briefbogen heraus und las. Viel war es nicht. Das Telefon hörte nicht zu klingeln auf. Er schwitzte. Der Sheriff hatte das Fenster erreicht und tippte zum Gruß mit dem Finger an die Hutkrempe. Schnell wollte Gregg den Brief unter einen Prospekt schieben, als er wieder niesen musste. Wieder langte er in seine Hosentasche, fand wieder kein Taschentuch, riss dann die braune Papiertüte auf, holte die Sandwiches heraus, und, richtig, Doris hatte ihm Servietten dazugelegt. Er schnupfte. Als er endlich wieder aufsah, war – zu seinem Erstaunen – der Sheriff nicht mehr da.

***

 

Moose Town, Alaska, 30. Juli

Auch im Bad drang das Lachen aus dem Wasserhahn. Auch hier hing ein einziger Tropfen daran. Sicher gab es auch darin ein Gesicht, vielleicht viele, sie wollte es gar nicht sehen. Da hing ein Tropfen am Wasserhahn, ohne fallen zu wollen. Und lachte. Grundlos, unbeschwert. Es war nicht auszuhalten.

Man musste dem ein Ende setzen.

Wenn es nichts nützte, es wegzuspülen, so gab es offensichtlich nur einen einzigen anderen Weg. Martha durchschritt ihr Badezimmer. Auf der Ablage betrachtete sie Haarspray, Bürste, Lippenstift und Zahnpasta.

Ein endgültiges Ende musste man dem setzen.

Martha streckte die unverletzte Hand aus, den Mittelfinger, und drückte ihn fest auf das Loch im Wasserhahn, sodass nichts aus der Leitung dringen konnte, aus der laut Mr. Clyve untadeligen Leitung. Endlich Ruhe. Doch wie lange würde sie andauern? Sie sollte ihn noch einmal anrufen, ihn bitten, sich alles noch einmal anzusehen. Sicher würde er kommen. Doch dann? Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Wie still. Nur die Feuchte auf der Fingerkuppe. Er würde wieder gehen. Sie fühlte sich in sich zusammensacken. Als wenn die Erschöpfung endlich zu ihrem Recht käme.

So merkte Martha nicht, wie sie sich auflöste, mit dem Tropfen an der Kuppe ihres Mittelfingers verschmolz, dass sie zu einem großen Tropfen wurde, so groß und schwer, dass sie vom Wasserhahn in den Abfluss fiel und in ihm verschwand.

 

***

 

Moose Town, Alaska, 31. Juli

Das Telefon klingelte. Martha war gestern nicht zur Arbeit erschienen (sie wollte später kommen, weil sie Mr. Clyve erwartete, irgendetwas mit der Wasserleitung), und heute auch nicht. Alle hatten nach ihr gefragt, der Briefträger, Doris, die ganze Stadt. Eine Sommergrippe, war seine Antwort. Das Telefon klingelte, den ganzen Tag schon, Hochsaison. Und Martha fehlte. Normalerweise hätte er schon vor zwei Stunden geschlossen, aber was sollte er tun?

Die Straße vor seinem Fenster leerte sich. Moose Town ging zur Ruh.

Martha hatte in dreißig Jahren nicht einmal gefehlt, und nun hatte sie sich seit gestern nicht gemeldet und er hatte keine Ahnung, was mit ihr war.

Das Telefon klingelte.

Doris schloss das Diner zu. Er nahm ab.

»Moose Town Travel«, meldete sich Gregg. Ein merkwürdiges Geräusch war in der Leitung.

»Hallo, können Sie mich hören?«, fragte er.

Doch da war nichts als ein Glucksen. »Hallo?« Gluck… gluck…

Gregg meinte, seinen Herzschlag zu hören. Gluck… gluck… gluck…. Glet… scher. Gletscher.

»Martha? Sind Sie es, Martha?« Doch es gluckste nur noch ein Weilchen weiter, bis die Leitung erstarb. Langsam legte Gregg auf. Er ordnete die letzten Unterlagen, schloss den Laden und trat auf die Straße. Die Luft war lau, Abendrot hing in den Wolken. Kein Geräusch war zu hören. Am Friseursalon von Mrs. Sayers waren schon die Jalousien heruntergelassen. Moose Saloon hatte Ruhetag. Doris putzte ihren Tresen. Nur der Drugstore an der Ecke war noch geöffnet. Das war Moose Town, schoss es ihm durch den Kopf. Und dass er Aftershave kaufen musste, fiel ihm ein.

Plötzlich schob sich eine Silhouette vor den untergehenden Sonnenball.

»Ein schöner Abend, nicht wahr, Gregg?«

Die Stimme war dunkel. Gregg sah auf: »’N Abend, Sheriff.«

»Und angenehm ruhig, hab ich recht, Gregg?«

»Völlig, Sheriff.«

»Du sagst es, Gregg, wie wir es alle hier mögen, bei uns in Moose Town.«

»Oh ja, alle mögen wir das.«

»So ist es, die Sonne geht auf über Moose Town und unter, und dazwischen ist nichts.«

Gregg suchte die Augen des Sheriffs, doch sah er sie nicht. Das Gesicht lag im Schatten, eine dunkle Schablone, nur der Mund, aus dem diese tiefe Stimme kam, war zu erkennen, ein noch dunklerer Schatten. Die Hutkrempe stach scharf in den Abendhimmel, und der Mann wuchs mit jedem Wort in die Höhe.

»Viel zu tun?«

»Hochsaison, Sheriff.«

»Dachte ich mir, Gregg. So spät bist du sonst nie auf der Straße, wo doch Ruhetag im Saloon ist, nicht deine Art, Gregg.«

»Ja, verdammt spät, Sheriff. Fahre direkt nach Hause.«

»Das ist gut, Gregg, sehr gut. Gute Heimfahrt. Die Sonne geht auf über Moose Town und unter und dazwischen…«

»Ist nichts«, beendete Gregg den Satz. Er war fort.

Der Himmel war wieder rot, die Straße blutrot. Diner, Saloon, Friseursalon, gleich schloss der Drugstore. Das war Moose Town und er fühlte Moose Towns Straßenstaub durch die Schuhsohlen. Nichts war. Stille. Kein Grund, auf der Welt zu sein. Und er war keinen Deut besser. Er stieg in seinen Dodge. Weder wusste er etwas von Martha noch hatte es ihn interessiert. Warum erzählte er allen von einer Sommergrippe? Weil er nicht darüber nachdenken wollte, wo sie war und was passiert war. Die Sonne geht auf und unter, dazwischen ist nichts und hat nichts zu sein. Er war müde, unendlich müde. Das Aftershave fiel ihm ein. Und dann der Anruf. Warum war er so sicher, dass es Martha war, diese lallende Stimme, ausgerechnet Martha? Gerade, weil er nichts wusste außer Guten Morgen, schönen Feierabend, seit zehn Jahren. Glet-scher. Er startete, legte den Gang ein und fuhr los.

 

***

 

Glacier View Hotel

Mühevoll stand Gregg vom Bett auf und trat ans Fenster. Die Vorhänge flatterten. Er fror, legte sich die Hand auf die Stirn: Fieber. Im Mondschein lag der Gletscher, das Hotel hielt, was sein Name versprach. Und voll war es, wie zu erwarten, so nah am Nationalpark. Zum hundertsten Mal holte er Marthas Brief aus der Jackentasche. Zimmer 13 stand da, mehr nicht. Und gewellt war der Briefbogen auf der Zahl 13, als wenn ein Wassertröpfchen daraufgefallen und langsam vertrocknet wäre. In keinem Hotel der Welt gab es ein Zimmer mit der Nummer 13. Hier schon.

Er sah in den Spiegel an der Wand: Das Rot in seinem Auge wurde heller, aber nicht weniger. Eher wässrig, verdünnt. Er sah mies aus. Er gab sich einen Ruck und trat auf den Flur. Leer, grell erleuchtet, lang war er und sehr kalt. Die Touristen schliefen. Vor der 13 blieb Gregg stehen und lauschte. Es gluckste. Es konnte kein Zurück geben, Gregg drehte den Türknopf und trat ein. Drinnen brannte das Licht. Bett, Schreibtisch, Stuhl, alt, billig, wie in seinem Zimmer, nur unberührt. Und entsetzlich kalt. Wie am Gletscher, dachte er.

Glet-scher raunte es. Er sah sich um und ahnte, woher es kam. Er durchschritt langsam das Zimmer und ging ins Bad. Dusche, Toilette, Waschbecken, sonst nichts. Nur ein Tropfen am Wasserhahn, rund, schwer. Gregg beugte sich vor: Sein Gesicht. Es lächelte. Sah wacher als er aus.

»Etwas schwerfällig heute, was?«, sagte es. »Du hast das alles doch gestern schon gesehen. Am Gletscher.«

Plötzlich war Greggs Panik wieder da. Wie gestern an der Gletscherkante. Sein Atem rasselte.

»Alles Wasser im County kommt vom Gletscher, wusstest du das nicht?«

»Was bist du?«

»Wie sehe ich denn aus?«

»Wie ich.«

»Na, Bingo.« Das Gesicht lachte höhnisch.

Runterzählen, dachte Gregg. Zehn, neun.“

»Die meisten sehen mich gar nicht, und ich meine jetzt mich, Gregg, nicht dich.« Acht. »Und von denen, die mich sehen, sehen die meisten sich selbst. Verrückt, was?« Die Stimme lachte wieder. »Sieht dir ähnlich, was Gregg? Im wahrsten Sinne des Wortes sieht’s dir hier ähnlich!« Die Lache wurde eiskalt und diese Fratze aalglatt. Sieben, sechs. Es nützte nichts mehr. Gregg zitterte immer stärker, er schwitzte.

Aber er musste am Ball bleiben, es weiter versuchen. Fünf.

»Martha?«, brach es plötzlich aus ihm hervor. Das Lachen erstarb.

»Oh, Martha«, sagte die Stimme zart. »Martha.«“

„Mit einem Mal spürte Gregg Luft zwischen zwei Herzschlägen. Zittrig aber ruhig, hörte er sich fragen: »Warum ist sie nicht da?«

Er hielt inne. Er brauchte nicht mehr weiterzuzählen, nein, er hielt stand, hielt dem Tropfenkopf stand. Er konnte allem standhalten, Sheriffs, Gletschern, Moose Town. Doch dann geschah es: der Tropfen schwoll an. Die Lache kehrte zurück, dunkler als zuvor hallte sie in Greggs Kopf wider. Und tat weh. »Du fragst, warum Martha nicht hier ist? Ausgerechnet du?« Er hielt den Schmerz nicht mehr aus, er stach ihm ins Auge. Gregg rannte los, aus dem Bad, durch das ärmliche Zimmer, auf den Gang. Das grelle Neonlicht im Flur ließ den Schmerz nur noch wachsen. Er rannte, minutenlang. Der Flur nahm kein Ende. Wo war er? Sein Herz raste schon wieder, Schweiß lief ihm von der Stirn, brannte im Auge. Endlos rannte er, bis er vor seiner Tür stand, aufschloss und mit einem Satz ins Zimmer sprang. Dann stand er im Bad. Er wusste nicht, wie er hineingekommen war. Aftershave fehlte, fiel ihm ein. Dann hörte er die Lache wieder. Unvermittelt vibrierte sie in seinem Hirn. Auch an diesem Hahn hing der Tropfen, Gregg erkannte sein Gesicht sofort. Es schwoll an, grässlich verzerrt, wie er sich nie hatte sehen wollen. Der Tropfen wuchs und schon quoll das Waschbecken über von ihm. Gregg sah in sein blutunterlaufenes Auge, sein glattrasiertes Gesicht. Längst war es größer als das auf seinem Kopf, die Lache sägte an seinen Nerven. Dann platzte sie und flog ihm knallend um die Ohren.

 

***

Moose Creek Cemetery, Moose Town, Alaska

»Asche zu Asche«, sprach der Reverend, die Sonne schien milde. »Staub zu Staub.« Er schaufelte etwas Sand aus dem Eimer und ließ ihn auf den Sarg rieseln. Musik gab es keine, doch war plätschernd und glucksend der Creek zu hören. Die halbe Stadt defilierte am Grab vorbei. Mrs. Sayers hielt Doris am Arm.

»Wie traurig«, sagte Doris.

»Auch für ihn«, sagte Mrs. Sayers und zog Doris fester zu sich heran. »Er ist gebrochen.«

Doris wischte sich eine Träne von der Wange: »Sie starb in seinen Armen.« Sie sahen zu Mr. Clyve hinüber, fahl und zitternd stand er am Grab, der Reverend nahm ihn beiseite.

»Wenn er nicht bemerkt hätte, dass er eine Zange während der Reparatur bei Martha hatte liegen lassen«, flüsterte Mrs. Sayers. »Und wie mutig von ihm, einfach hineinzugehen nach dem vergeblichen Klingeln. Man sagt, er fand sie im Bad liegen, vom Fieber fast völlig verbrannt.«

»Keine Rettung mehr. Aber er hielt sie fest, bis zum Schluss.«

»Eine heftige Sommergrippe, viel heftiger als ich es gedacht hätte nach dem, was Mr. Howard so sagte. Wie geht es ihm eigentlich?«

»Gregg? Noch im Koma. Die Kopfverletzungen sind sehr schwer.« Doris beugte sich vor: »Der Arzt sagte mir heute früh, während ich ihm den Speck briet, in Greggs Hirn sei etwas geplatzt. Man weiß nicht, ob er durchkommt.«

Sie schwiegen.

»Was hat er eigentlich in diesem Hotel dort gemacht, Doris?«

»Ich weiß auch nicht, warum er aus Moose Town fort ist, Mrs. Sayers.«

Sie fröstelte.

»Es ist kalt, Mrs. Sayers, wir sollten zurück.«

»Das ist der Creek, Doris. Er führt Gletscherwasser.«

Sie hakten sich ein und verließen den Friedhof, in die ruhigen Straßen von Moose Town. Der Sheriff grüßte sie wortlos, sie grüßten zurück. Der halbe Tag lag noch vor ihnen, bevor die Sonne unterging, aber es würde nichts mehr passieren in Moose Town. Nur der Creek gluckste.


Exotische Welten, O‘Connell Press, Weingarten 2014