Rönum

O‘Connell Press, Weingarten 2015

Abreisetag

Der Polizeibeamte lächelte. Aber es war ein kaltes Lächeln, pflichtbewusst, und auch seine Stimme war, als er meine Personalien vorlas, automatisch. Ganz klar, er wollte es schnell hinter sich bringen und von hier fort.

„Name: Brigitte Sand.

Alter: fünfunddreißig Jahre.

Beruf: kaufmännische Angestellte. 

Familienstand: ledig.

Zur Zeit wohnhaft: Ferienpension „Haus Ebbe und Flut“, Rönum.“

Das Ganze trug die Überschrift „Protokoll“. Und auch wenn ich diese wenige Tatsachen über mich schon wusste, gaben sie mir doch etwas Halt, als er mich bat, alles noch einmal zu erzählen, viel sei es ja nicht, er würde gleich mitschreiben.

Es war also nicht viel, wie beruhigend, dazu passte jedenfalls, dass die Polizisten mit der regulären Fähre vom Festland herübergekommen waren. Ich hatte mir ihren Aufmarsch spektakulärer vorgestellt, aber so war es wohl am kostengünstigsten.

Sie brachten ihr gesamtes Team mit, alle Gerätschaften, Absperrband, als wenn es einen Menschenauflauf zu verhindern gegolten hätte auf Rönum, ich fand das maßlos übertrieben, aber ich bin wahrscheinlich die Letzte, die noch zu einer nüchternen Betrachtung fähig ist, Fotoapparate, die altertümliche Schreibmaschine, sogar das Papier. Mich hätte nicht gewundert, wenn sie sogar ein Ersatzfarbband dabei gehabt hätten. Und natürlich den Sack für die Leiche.

So kamen sie mit den letzten Feriengästen der Saison herüber, und so fuhren sie auch wieder zurück. Nur dass da der Sack voll war.

Das ist vielleicht eine merkwürdige Formulierung, aber ich stehe wohl noch unter Schock, womit ich keinesfalls entschuldigen will, dass ich vielleicht pietätlos klinge, vielmehr möchte ich betonen, dass es nun einmal das erste Mal war, dass ich auf einem Strandspaziergang eine Leiche gefunden habe, obwohl ich schon viele Strandspaziergänge gemacht habe in meinem Leben. 

Jedenfalls nahmen sie meine Aussage im Frühstückszimmer der kleinen Pension zu Protokoll. Die alte Wirtin brachte Kaffee und murmelte dabei: „Ach, meine Güte, meine Güte“, und „Die arme Kleine“. 

Damit meinte sie mich.

Der Polizist nahm einen Schluck und sah mich dann erwartungsvoll an. 

Währenddessen war es im Zimmer still, fünf stumme Tische standen da, mit beigefarbenen Tischdecken, auf denen geblümte Salz- und Pfefferstreuer standen, und zu hören waren nur die gleichmäßigen Anschläge auf der Schreibmaschine sowie das Ticken der alten Wanduhr.

Die hatte schon immer da gehangen und schon immer so getickt, tick, tack, tick, tack. Als Kind hatte ich mich bei diesem Klang behaglich gefühlt, aber heute Vormittag, dem steifen Polizeibeamten gegenüber, trieb es mich in den Wahnsinn. Die Zeit verging nicht. Sie stand. 

Dann begann ich zu erzählen, und er begann zu tippen, nur mit den beiden Zeigefingern tippte er.

Nur selten stellte er eine Frage, ich antwortete, er tippte weiter. Langsam, rhythmisch. Dieses dumpfe Tippen verbreitete sich im ganzen Raum, und selbst wenn es zwischendurch aussetzte, weil der Polizeibeamte einen Buchstaben suchte, so setzte es anschließend um so durchdringender wieder ein. Erst gab es einfach einen Tackt vor, dem sich die wirren Bilder in meinem Kopf unterordneten, so dass die Erinnerungen eine nach der anderen, ordentlich hervorkrochen. Dann folgte sogar meine Sprache dem Rhythmus der Anschläge auf dem Farbband, bis ich sogar das Gefühl bekam, ich würde Wort für Wort nacherzählen, was er gerade zuvor aufschrieb.

Und selbst wenn ich kurz schwieg und überlegte, hörte das Tippen nicht auf. Dann war mir, als wenn es wie ein stetiges Wassertropfen auf meinen Schädel prallte. Und ihn irgendwann durchdrang.

Wir saßen an dem Tisch direkt am Fenster, an dem ich am Morgen noch gefrühstückt hatte, starken Kaffee, zwei Brötchen, eines mit geschmacklosem löchrigem Käse, das andere mit Erdbeermarmelade, dazu ein weichgekochtes Ei. Der Beamte hatte den Salzstreuer links, den Pfefferstreuer rechts von seinem Schreibungetüm aufgestellt, wie Schutzengel, schoss es mir durch den Kopf, welch ein Unsinn, und ich sah durch das Fenster über den kleinen Garten auf den Deich, über dem weiße Schäfchenwolken am Himmel grasten, als wäre nichts passiert.

Irgendwann fiel mir auf, dass es noch ein Geräusch gab: die Atemzüge des alten Mannes, der bewegungslos an einem Tisch in der Ecke saß. 

Es war der Mann der Wirtin, oder so. Zumindest war er bei meinem letzten Aufenthalt hier vor dreißig Jahren plötzlich da gewesen, und meine Eltern, die ich gleich nach meiner Ankunft in der Pension angerufen hatte, konnten sich noch lebhaft an ihn erinnern, was ich dem missbilligenden Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung entnahm, als ich ihnen von den Wirtsleuten erzählte. Sie waren sowieso dagegen gewesen, dass ich auf ein paar Tage hierher fuhr. Natürlich war auch das ganz und gar unausgesprochen.

Was nun den alten Mann anbelangt, fand ich nur merkwürdig, dass der Polizist ihn nicht hinausschickte. Im Grunde hatte ich das Gefühl, dass er ihn gar nicht bemerkte, was trotz seiner stattlichen Größe von knapp zwei Metern und seiner breiten Schultern nicht weiter verwunderlich war, denn er war stets unauffällig grau gekleidet und seine Haut schien sich der Farbe der Umgebung anzugleichen. Ging er tags auf dem Deich, schimmerte sie wässrig blau wie der Himmel, jetzt wässrig beige wie der Tisch, an dem er saß, immer wässrig, und am Strand wäre ich neulich fast gegen ihn gelaufen, so sehr hatte der Sand durch ihn durchgeschimmert. Nur nachts, da hatte ich ihn einmal im Garten gesehen, da blinkten seine Augen, im Takt wie dieses Leuchtturmsignal in der Ferne, nur dass seine Augen ganz nah waren.

Rot leuchteten seine Augen. Fand ich. Und quollen ein wenig hervor, fast wie bei einer Echse.

Am Strand hatte ich als Kind stundenlang mit Plastikschaufeln im Sand gebuddelt, bis von unten Wasser in die Löcher im Sand aufstieg. Die Quallen mit bloßen Händen aufzusammeln und sie aufeinanderzulegen wie bunt schillernden Wackelpudding, hatte mir unendlichen Spaß gemacht. Natürlich hatte ich mich damals auch ab und zu an ihren Nesseln verbrannt und dann geheult. Aber die Freude daran, diese glibberigen Massen aufgeschichtet zu sehen, rot, gelb und blau glänzend, überwog.

Wirklich traurig wurde ich als Kind nur, wenn die Sonne sie auszutrocknen begann und sie schrumpften und ineinander versanken und sich auflösten.

Dass sie dabei starben, wusste ich nicht. Ebenso wenig wie es mir klar gewesen war, dass sie zuvor gelebt hatten. Obwohl meine Eltern es mir immer wieder erklärten, waren die Quallen für mich keine Tiere gewesen. Anders als die Seepferdchen. Wenn ich ein totes Seepferdchen am Strand fand, musste ich weinen, und zwar noch bitterlicher, als wenn die schönen Quallenberge in der Sonne vergingen.

In diese Wärme, die der Sand selbst an Schlechtwettertagen ausstrahlte, hätte ich mich am liebsten eingegraben. Im Grunde habe ich mich immer danach zurückgesehnt. Ich erinnere mich, wie ich in den ersten Jahren nach unserem letzten Besuch dort meine Eltern fragte, wann wir wieder auf die Insel fahren würden.

Die Antwort war eisiges Schweigen. Nur einmal hieß es, wir mögen es da nicht mehr. Selbst den Namen Rönum nahmen sie nicht mehr in den Mund.

Aber ich habe sie Insel nicht vergessen können.

Doch das hätte ich besser getan.

Auf die Leiche stieß ich heute morgen gleich nach dem Frühstück. Bis dahin hatte ich eine Woche lang auf meinen Spaziergängen dem sanfte Wellenrauschen gelauscht und morgens bei Ebbe wie ein kleines Kind neugierig nachgeschaut, was die nächtliche Flut an Land gespült hatte.  

Jede Muschel hatte ich hochgehoben und darunter wer weiß was für Wunder vermutet, zahllose glänzende Kieselsteine ins Wasser zurückgeworfen und mich diebisch gefreut, wie sie dort untergingen. Und wenn nachmittags die Flut zurückkehrte, hatte ich mich wie gebannt über meine eignen Fußabdrücke im Sand gebeugt und zugesehen, wie das Wasser aus der Tiefe in das Negativ meiner Zehen und Fersen stieg und sie langsam verschlang.

Eine Woche, in der ich mich auf meinen Wanderungen am Wasser aber auch fragte, warum meine Eltern Rönum totschwiegen. Diese Insel war so voll von Erinnerungen für mich gewesen, doch immer wenn ich davon reden wollte, legte meine Mutter den Finger auf ihre gespitzten Lippen, schloss die Augen und machte „Scht“. Bis ich es mir abgewöhnt hatte. Als braves Mädchen dachte ich, dass sie mich vor irgendetwas bewahren wollten. Aber wovor wollen Eltern einen eigentlich bewahren?

Hier gab es nichts, was gefährlich wirkte oder auch nur unheimlich. Auch nicht heute früh. Ich ging über den Deich, durch die Dünen, den Strand entlang, sah die gleißende Morgensonne auf den Wellen und auf dem feuchten Sand tänzeln und hielt Ausschau nach meinen Muscheln und Steinen, als ich die angespülte Schaufensterpuppe sah. Sie lag ordentlich auf dem Rücken, die Kleidung war nass aber makellos. Erst als ich näherkam und sah, dass Hände und Gesicht aufgedunsen waren, merkte ich, dass ich dabei war, in einem Alptraum zu versinken. 

Rönskoog, 27. August, 00.57 Uhr

Rodacher hörte einen Schrei, riss die Augen auf – und starrte in die Dunkelheit. Sie war mit einem dicken Pinsel gezogen, ohne Abstufungen oder Grautöne, einfach tiefschwarz und schwer. Obwohl die rote Digitalanzeige des Radioweckers durchs Schlafzimmer schimmern müsste und obwohl er die Vorhänge extra offen gelassen hatte, damit das Signal vom Leuchtturm herein schiene, alle fünfzehn Sekunden, war es einfach nur dunkel. Undurchdringlich.

Rodacher zählte, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Sein Herz pochte, und sein Atem raste. Er spürte ein Pochen in seinem Kopf. Siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig. Im Schlaf hatte er diesen tiefen Schrei gehört und nun war er hellwach, starrte in absolutes Dunkel, hatte seinen Atem nicht unter Kontrolle und der trieb seinen Herzschlag vor sich her. Schweiß rann ihm von der Stirn. Zweiunddreißig, dreiunddreißig. Wieder pochte es zwischen den Schläfen, das war das Grausen.

Jetzt war kein Schrei mehr zu hören, überhaupt nichts hörte er, genauso wenig wie er etwas sah. Noch zwei Sekunden bis zum Leuchtsignal. Vierunddreißig, fünfunddreißig – nichts.

Finsternis.

Er keuchte flach. Und zählte weiter, doch das Signal blieb aus. Die Hände zu Fäusten verkrampft, die Fingernägel in die Handflächen verbohrt, erstarrte nun sein Gesicht. Kiefer und Wangen brannten. Die Luft wurde dick. Zwei Dinge gingen ihm noch auf: so schweißgebadet war er, dass sein Pyjama ihm auf der Haut klebte, und – er lag nicht in seinem eigenen Bett. Es gab keinen Zweifel, Rodacher lag überhaupt nicht. Er stand.

Rodacher japste und röchelte, unfähig sich zu rühren.

Dann zerriss ihn der zweite Schrei, tief und stumpf wie der erste, ein quälender Laut und jetzt war es ganz sicher: der Schrei kam aus Rodachers eigener Brust. Als wenn ich im Traum schreie, aber es ist kein Traum, schoss es ihm noch durch den Kopf, als es plötzlich über ihn hereinstürzte. Von allen Seiten langte es gleichzeitig nach ihm, schwer, staubig, kratzte ihn, umklammerte ihn, legte sich ihm aufs Gesicht, auf Mund und Nase, raubte ihm den Atem, schlang sich ihm zwischen Beine und Arme. Stoffbahnen, von allen Seiten, grobe, feine, glatte, raue, alle drohten ihn zu fesseln und zu ersticken. Rodacher wankte, stolperte nach rückwärts gegen eine Wand. Und dann platzten die Schreie unkontrollierbar aus ihm hervor mit einer Wucht, die ihm beinah die Lunge zerriss. 

Wild schlug er um sich, verfing sich in Jackenärmeln, Hosenbeinen und Krawatten. Etwas Spitzes stach ihm ins Auge. Vor Schmerz jaulte er auf. Er wollte sich mit dem Gewicht seines Körpers zu den Seiten hin werfen, aber schon steckte er fest in all diesen Stoffmassen, nur noch den Kopf konnte er bewegen. Sein Herz raste. Es gab nur einen Ausweg: Er schlug den Kopf nach vorn. Hämmerte ihn gegen die Wand, hoffte, dass es dir Tür war. Er musste aus dem Kleiderschrank raus, sofort, bevor ihm das Herz aus dem Brustkorb sprang. Mit einem letzten Ächzen prellte er seinen Schädel noch einmal gegen die Schranktür, so dass sie endlich aufsprang, und fiel mit Mänteln, Hosen und Kleiderbügeln krachend auf den Holzfußboden.

Regungslos lag er da, während der Aufprall zwischen seinen Schläfen nachhallte. Ihm war schwindlig und er konnte nicht ausmachen, ob ihm wirklich schwarz vor Augen war oder ob er die Lider geschlossen hielt. Der Schmerz war zu stark.

Schließlich drehte Rodacher sich auf den Rücken und sah einen roten Schimmer durch die Luft wabern, er erkannte die Umrisse des Betts, des Nachtschranks, des Radioweckers darauf und des Glases mit Leitungswasser, das er sich wie jeden Abend dorthin gestellt hatte. Dann wurde sein Atem ruhiger. 

Irgendwann sah er das Zimmer ins weiße Licht vom Leuchtturm getaucht, dreimal nacheinander, für je eine Sekunde. Er schaffte es aufzustehen, trotz des Hämmerns in seinem Kopf und des stechenden Schmerzes in seinem linken Auge. Rodacher sah seine zerwühlte Bettdecke und trat ans Fenster: nichts, nur dichter Nebel, der an der Scheibe klebte. Nach fünfzehn Sekunden kam wieder das weiße Leuchtturmsignal, schwächer als gewöhnlich, fand er, der Nebel dort draußen fraß die Welt auf.

Es war zum wahnsinnig werden.

Seit sechsunddreißig Jahren war er nicht mehr im Kleiderschrank aufgewacht, seit seinem neunten Geburtstag, um genau zu sein. Und jetzt fing alles wieder an.

Der Nebel rann in schweren Tropfen von der Scheibe herab. Diese Glasscheibe gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, doch wusste er, dies war nichts als kindliche Illusion. Er sah sein Gesicht gespiegelt, nicht auf dem Fensterglas, auf den herab rinnenden Tropfen. Rodacher als kleiner Junge, mit Tränen in den Augen weinte er sich selber zu. Dieses Kaff, wenn er nicht aufpasste, würde er wahnsinnig in diesem gottverdammten Kaff. Er legte sich ins Bett und fing sofort zu zittern an. Krämpfe schüttelten seinen Körper und ihm war kalt. Außerdem bemerkte er, dass seine Kehle ausgetrocknet war und brannte.

Mit Mühe griff er zum Wasserglas, es war fast leer. Er musste daraus getrunken haben, bevor er zu schlafwandeln begonnen hatte, ohne dass er sich daran erinnern konnte. Nur noch ein kleiner Schluck war darin, den er mit zitternden Händen zum Mund führte. Gierig trank er – und spuckte das Wasser sofort wieder aus. Es schmeckte ekelhaft. Er konnte nicht sagen, ob bitter oder nach Mineralien oder einfach abgestanden. Das war ja auch kein Wunder, so wie es ihm ging in dieser Nacht!

Rodacher stellte das leere Glas auf den Nachtschrank zurück, drehte sich und legte sich noch eine Zeit lang mit der Zunge diesen widerlichen Geschmack vom pelzigen Gaumen. Allmählich gewöhnte er sich daran. Es beruhigte ihn sogar. Und mit dem verschwommenen Gedanken, dass er diesen Geschmack heute schon einmal in seinem Mund hatte, schlief er ein.

Rönskoog, 27. August, 00.58 Uhr

Das Telefon riss Maria Feinworth aus dem Schlaf. Sie langte durchs Dunkel nach dem neuen batteriebetriebenen Wecker auf dem Nachtschrank. Ihre Hand war schwer, die Finger steif, im Grunde schlief sie noch. Mühevoll zog sie dieses Plastikgerät vor ihre Augen und versuchte, den Knopf für die Zifferblattbeleuchtung zu ertasten. Es war ein billiges Teil, eine Notlösung, die sie sich vorgestern auf dem Heimweg vom Büro bei Grawens besorgt hatte, weil ihr Aufziehwecker über Nacht stehen geblieben war. 

Und er hatte sich nicht mehr aufziehen lassen, dabei hatte sie alles versucht.

Das Telefon klingelte noch immer.

Glücklicherweise hatte sie nicht verschlafen, vorgestern. Sie wachte ja immer um sechs Uhr auf, mehr als rechtzeitig, noch bevor der Wecker losging, ihre innere Uhr war da völlig im Lot. Kurz hatte sie deswegen sogar mit dem Gedanken gespielt, sich gar keinen neuen Wecker zu kaufen, hatte es für eine überflüssige Geldausgabe gehalten. Aber das war natürlich verrückt. Man brauchte ja einen Wecker.

Sie drückte verschiede Knöpfe des quadratischen Teils in ihrer Hand, aber das Licht ging nicht an. Entweder fand sie nicht den richtigen oder er war schon kaputt. Schließlich ging das Teil auch schon vor, um zwei Minuten. Drei neunundneunzig hatte er gekostet, natürlich ohne Batterien, die waren fast teurer gewesen, wahrscheinlich aus Fernost.

Maria Feinworth seufzte leise und stellte das Ding auf den Nachtschrank zurück. Sie wusste eh, wie spät es war, ihre schweren Glieder verrieten es ihr: Es war mitten in der Nacht. Und sie wusste auch, wer sie um diese Zeit anrief, und dass das Telefon so schnell nicht aufhören würde zu klingeln, dass es überhaupt nicht aufhören würde zu klingeln.

Sie seufzte noch einmal, stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln und zog den Morgenmantel an, den sie am Abend über den Stuhl vor dem alten Schminktisch gelegt hatte. Dann nahm sie noch rasch einen Schluck Wasser aus dem Glas, das sie immer auf ihrem Nachtschrank stehen hatte, Rönskooger Leitungswasser, mild und weich, es schmeckte immer noch so wie in ihrer Kindheit; und das war der Grund, weshalb sie es am Bett stehen hatte: wachte sie nachts aus einem dunklen Traum auf, tröstete sie schon ein kleiner Schluck.

Doch jetzt war für Trost nicht die Zeit, das Telefon rief nach ihr, und langsam ging sie in den Flur. 

Licht zu machen, war nicht nötig, denn durch die Glasscheibe der Haustür schimmerte es milchig weiß von der Hausnummernbeleuchtung, die sie jeden Abend einschaltete. Und die altrosa Stores zog sie im Sommer nicht zu.

Draußen hing dichter Nebel. Sie nahm den Hörer ab.

„Feinworth“, sagte sie förmlich.

„Habe ich dich geweckt?“, fragte eine aufgeregte Frauenstimme, die eindeutig ihrer Schwester gehörte.

„Sandra?“

Überflüssig, dachte Maria Feinworth – und ließ den Blick durch das Glas in der Tür hinaus gleiten. Doch konnte sie nicht einmal die Eibenhecke erkennen, so dicht war der Nebel. Und ihr war so kühl. Ging es denn schon wieder auf Ende August?

Sandra schwieg störrisch, bis Maria Feinworth ihre Frage endlich beantwortete:

„Ja, du hast mich geweckt.“

„Ich konnte nicht schlafen.“ 

Sandras Stimme zitterte und sie sprach leise, als wolle sie eben dieses Zittern verbergen: „Ich hab ihn gesehen.“

„Papa?“ 

„Ja.“

„Wo?“

„Regnet es denn bei euch nicht?“

Diesmal war es Maria Feinworth, die störrisch schwieg. Denn natürlich regnete es nicht, nirgends, weder hier an der Küste noch in der Stadt. Seit Wochen nicht. Die Frauen schwiegen, und Maria Feinworth hörte ein unruhiges Atmen aus der Leitung, während sie dem fahlen Licht hinterher sah, das durch die Haustür hereinfiel, ihre roten Pantoffeln streifte und sich am Ende des engen Flurs, wo die Türen zum Bad und zu ihrem kleinen Schlafzimmer abgehen mussten, im Dunkel verlor. 

Ein Bungalow aus den Siebzigern, quadratisch, den die Eltern damals gebaut hatten, um ihn an Fremde zu vermieten, und in dem sie kaum etwas verändert hatte in den dreißig Jahren, die sie ihn bewohnte. Neue Heizkörper hatte sie einbauen lassen vor fünfzehn Jahren, eine neue Küchenzeile vor sieben oder acht, ein Jahr nach dem neuen Kleiderschrank, und die Gardinen hatte sie mit den Jahren ausgewechselt, auch diese altrosa Stores an der Tür. 

Im Carport um die Ecke stand ihr alter dunkelblauer Ford Fiesta und an dem hintersten Tragebalken hingen noch immer die große grüne Gießkanne aus ihrer Kindheit und das aus Muscheln zusammengeklebte Bild des Leuchtturms, sie sah es jeden Tag beim Ein- und Ausparken. Ihr Vater hatte es selbst geklebt: ein Muschelsammelsurium voller Wölbungen und Rundungen, das den Rönskooger Leuchtturm dennoch zeigte, wie er war – streng und kantig.

Sie wusste, dass sie Sandra Zeit lassen musste. Sie musste einfach warten und die beunruhigenden Geräusche aus der Leitung aushalten.

Die Pantoffeln waren aus Kunstseide, mit Perlen bestickt, ein Mitbringsel von ihrem Urlaub in Marokko, taugten im Grunde nur für den Hochsommer. Abwechselnd zog sie Ihre frierenden Füße heraus und rieb sie am Knöchel des anderen. Der Lack des linken großen Zehs blätterte ab. Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gegangen, aber das ging nun erst einmal nicht mehr. Schließlich hörte sie den Atem ihrer Schwester schneller werden. Und Wortfetzen, die darin untergingen.

„Sandra?“

„Es regnet lautlos hier“, war das Flüstern endlich zu verstehen, „Weißt du, Maria?“

„Ja.“

„Wenn die Tropfen nicht von oben herabfallen sondern dicht in der Luft hängen, aber so fein und so leicht, dass sie einfach nicht runterfallen, aber sie verkleben dir trotzdem das Haar und die Jacke. Weißt du, Maria?“

„Ja.“

„Wie wenn es weiß ist in der Luft, so dicht regnet es, aber ohne zu regnen, und man sieht nichts, und man weiß nicht, was gleich auf einen zukommt. Wie früher auf der Wiese. Weißt du?“ Und dann brach Sandra ab, und ihr Atem rasselte und schließlich fuhr sie fort: „Er steht auf dem Balkon.“

Es klang wie gehaucht, und nun hörte Maria Geräusche, die dem Weinen eines kleinen Mädchens glichen.

„Bitte, Sandra, du darfst jetzt keine Angst haben“, sagte sie so entschieden, wie es ihr zu dieser nachtschlafenden Zeit möglich war. „Nicht jetzt. Das ist alles mehr als dreißig Jahre her, reiß dich also bitte zusammen!“

„Behandle mich nicht wie ein zurückgebliebenes kleines Balg!“ Sandras Stimme überschlug sich. „Ich habe es satt von dir belehrt zu werden, verstehst du? Satt, wie du dich für etwas Besseres hältst, satt, wie du mich von oben herab behandelst, satt, wie du mit mir redest, als wenn ich eine Schraube locker hätte. Satt, satt, satt!. Lass das endlich blieben.“

„Gut, es ist ja schon gut.“

Sandra weinte, aber wenigstens klang sie jetzt wie eine Erwachsene.

„Gar nichts ist gut, überhaupt gar nichts. Außerdem hast du gut reden. Papa steht ja nicht vor deiner Tür.“

Es ging also wieder auf Ende August.

Maria Feinworth ließ den Blick langsam aus der Dunkelheit den langen Flur entlang zurückgleiten, zentimeterweise, zur Haustür, an deren Glas die Nebeltropfen herabglitten, lautlos wie stiller Regen. Dahinter nichts als dicke Schwaden. Auch dieses Glas hatte sie nicht verändert in den dreißig Jahren, die sie jetzt hier wohnte, obwohl sie es manches Mal auswechseln wollte gegen Milchglas oder Butzen, die weniger einsichtig wären. Aber dann hatte sie es doch stets so gelassen, und mittlerweile war die Eibenhecke mannshoch gewachsen und keiner der Nachbarn konnte sie sehen.

„Siehst du Papa jetzt?“

„Nein.“

Maria Feinworth spürte sich aufatmen.

„Nein, Maria, nein, nein, nein! Komm mir jetzt nicht mir deiner Logik. Ich hab mich im Bad eingeschlossen. Aber eben stand er noch vor der Balkontür und da steht er immer noch, das weißt du doch, Maria, das weißt du!“ Ihre Stimme wurde schrill und laut. „Er steht auf dem Balkon, und deswegen bin ich ins Bad gelaufen und habe mich eingeschlossen!“

Maria Feinworth versuchte es noch einmal so ruhig und bestimmt wie möglich: „Es kann überhaupt niemand auf deinem Balkon stehen, Sandra. Weil ganz einfach niemand dort hinaufkommen kann. Du wohnst im vierten Stock!“

Kurz herrschte in der Leitung Stille. Dann war wieder der bedrohlich schneller werdende Atem zu hören, ein abgehacktes Schnaufen, das in immer schnellerem Rhythmus zu ihr in die Nacht drang. Und immer höher wurden die Töne, die ihre Schwester dazu aus sich herauspresste, bis sie erschöpft zu dumpfem Lachen explodierten. Ein ohrenbetäubender Laut, der abklang und schwächer wiederkam und abklang und noch schwächer wiederkam. Wellenschlag auf dunkler See, der an Maria Feinworths Ohr schwappte, während sie die Tautropfen fixierte, die an der Tür herabperlten. Bis es verebbt war. War das Gelächter wirklich verstummt? 

Maria Feinworth horchte angestrengt in den Hörer: die Leitung war tot.