Der verdammte Regen schlug Reinhard ins Gesicht. Seit Wochen dieses Wetter. Die Bauern fürchteten schon um die Heumahd und ob man im Winter wieder Stroh von den Dächern ans Vieh verfüttern müsste.
Aber Reinhard hatte andere Sorgen. Er rannte den Hügel hinauf, fort von der Rauchwolke. Es war nicht zu fassen: Reinhard hatte doch lediglich seinen im Sterben liegenden Oheim retten wollen, mit dem Zauber des Lebensfeuers, wie Perfectus Achert es ihn gelehrt hatte. Er hatte sich neben das Bett des schlafenden Oheims gestellt und die Formel gesprochen. Fiat ingis vitae! Doch als er die entscheidende letzte Silbe aussprechen wollte, hatte der Oheim die Augen aufgeschlagen, und ihm, Reinhard, der sich für den wahren Glauben immer noch schämte, hatte die Stimme versagt. Und nun stand der kleine Hof in Flammen, brannte trotz des Regens wie Zunder und mit ihm der Oheim und sieben Schweine. Feuer war gekommen, aber das falsche.
Auf der Kuppe hielt er inne. Von hier sah er den Grauen Berg, an dessen Felssturz das Franziskanerkloster kauerte. Die Päpstlichen müssten den Rauch sehen, wenn ihre Augen nicht vom Lesen der Bücher Satans erblindet waren. Und im Dorf sahen sie es auch und würden Rache nehmen wollen.
Reinhard musste den Perfectus warnen. Er eilte den Hügel auf der anderen Seite hinunter, auf das Waldstück zu, hinter dem das Haus des Perfectus stand. Am Bach hielt er an, um zu trinken. Maiglöckchen und Wasserranken wuchsen hier. Er kniete nieder, schöpfte mit der hohlen Hand und sah im Wasser sein junges Gesicht, kaum zwanzig, seinen blonden, wilden Schopf und die Angst in seinen Augen. Dann hörte er, wie Zweige knackten und sah zu den Eschen am Waldesrand. Plötzlich schossen zwei Reiter aus der Blätterwand hervor. Sie trugen dunkle Mäntel mit Kapuzen und sprangen über ihn hinweg. Reinhard warf sich nieder. Dann rasten sie auf den Hügel und verschwanden im Regen.
Inquisitor Abelardus Herrlich bekreuzigte sich, als er die verkohlten Leichname in den Resten des Scheiterhaufens betrachtete. Dann saß er auf und stieß seinem Gaul die Fersen in die Flanken, um wieder Anschluss an seinen Tross finden. Dieser bestand aus Bruder Rivère, der dem Inquisitor als Schriftführer diente, Meister Figuera, der, in schweren Holzkisten auf mehrere Lastesel verteilt, seine wichtigsten Folterwerkzeuge mitführte, und aus einem Dutzend bewaffneter Männer, die ihm der Bischof von Trier zur Verfügung stellte.
Herrlich, früher nichts als ein einfacher Dominikanerbruder, genoss seit zwei Jahrzehnten das Vertrauen Roms im Kampf gegen den Antichrist. Als der Bischof von Trier den Heiligen Vater um die Stärkung der Gesetze Gottes mithilfe der Heiligen Inquisition gebeten hatte, war die Wahl sofort auf ihn gefallen.
Herrlich lenkte seinen Gaul nahe an den seines Ordensbruders.
„Und, Bruder Abélard, ist es so schlimm, wie der Bischof gesagt hat?“, fragte Rivère.
„Ein missgebildeter Säugling und die Mutter“, antwortete Herrlich.
Rivère umfasste das Holzkreuz an seinem Hals. „Missgebildet, sagt Ihr…?“
Herrlich versuchte, in den hellen Augen des zwanzig Jahre jüngeren, großen Mannes zu lesen. Er selbst war klein und hatte bereits ein Alter erreicht, das sich an kalten Wintertagen in den Knochen bemerkbar machte. Seine Entschlusskraft aber, den Kampf gegen Satan bis zum Letzten zu bestehen, war ungebrochen.
„Dem Kleinen wuchs ein dritter Arm aus der Schulter“, sagte er. Rivère, noch immer das kleine Kreuz in der Hand, fragte wie in Gedanken: „Wie viele Rauchsäulen haben wir während unserer Fahrt von Trier auf der Mosel gesehen, Bruder Abélard?“
„Einundzwanzig“, entgegnete Herrlich. „Das Volk versucht selbst, die Hexerei zu besiegen. Doch das Volk ist schwach.“
„Dem Bischof kann das alles nicht gefallen…“
„Bruder Rivère, wollt Ihr andeuten, dass Ihr dem Bischof misstraut?“
Rivère ließ sein Kreuz los und antwortete: „Aber, Bruder Abélard, misstraut Ihr ihm nicht auch?“
„Der Bischof ist ein braver Vertreter des Glaubens“, antwortete Herrlich, und sie wussten beide, dass dies so ziemlich das Schwächste war, was man über einen so hohen Würdenträger sagen konnte.
„Der Bischof von Trier“, hakte Rivère nach, „ersucht den Heiligen Vater um Hilfe. Ihr kommt, und dann schickt er uns mit einem Geleit von gerade einem Dutzend in diese dunklen, dicht bewaldeten Berge. Noch dazu mit Pferden, die alt sind, dass sie uns kaum in diese Ödnis hinein, geschweige denn wieder heraustragen.“
Den ganzen Tag schon ritten sie südwärts. Der Weg wurde enger, die Berge höher, nur hier und da gab es Weiler mit niedrigen Hütten, die sich ins Erdreich oder ins schroffe Gestein drückten.
„Meister Abel“, rief Meister Figuera. „Ich fürchte, die Packesel brauchen ihre Nachtruhe. Sie sind mindestens so gebrechlich wie die Gäule, die uns der Bischof gegeben hat.“
„Daumenschreiben und Spanischer Bock wiegen eben schwer auf dem Rücken eines gottgefälligen Maulesels“, spottete Rivère.
„Die Gerätschaften eines ehrenwerten Handwerks, Meister Rivère, nicht allen Dienern Gottes ist es vergönnt, IHN ausschließlich mit Wortwitz zu preisen“, gab Meister Figuera zurück.
„Kein Zwist“, forderte Herrlich. „Oder könnte es sein, dass Satan dabei ist, uns ein Bein zu stellen?“
„Vater, erbarme dich“, murmelte Meister Figuera und fuhr fort: „Trotzdem frage ich mich, wo wir in dieser Wildnis wir ein Obdach finden.“
„Wann immer wir in eine Gegend kommen, die nicht aussieht wie Euer heimatliches Sevilla und wo Thymian wächst, bangt Ihr um Eure Nachtruhe“, lachte Rivère.
„Wir schlafen, wo Gottes Gnade uns unser Haupt betten lässt“, sagte Herrlich. „Aber Ihr habt Recht. Diese Gegend ist so verlassen, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass einige Katharer nach ihrer Vertreibung aus Köln sich hierher geflüchtet haben, ganz wie der Bischof vermutet.“
Sie hatten einen Hügel erklommen, als der Hauptmann sein Pferd anhielt und ausrief: „Seht, Herr!“
Eine feine Rauchwolke stieg am Horizont auf.
„Wieder eine Seele, die sie im Feuer zu erretten versuchen“, murmelte Meister Figuera und bekreuzigte sich. Herrlich fuhr auf: „Der Kampf gegen den Antichrist obliegt uns allein. Nur die Inquisition der Heiligen Kirche hat die Kraft, die Seele der Gnade Gottes zuzuführen. Wer uns übergeht, ist bestenfalls ein Mörder, schlimmstenfalls ein Handlanger des Bösen.“
„Für einen Scheiterhaufen scheint es mir zu viel Rauch, Bruder Abélard“, sagte Rivère. „Ihr habt Recht, dort brennt nicht ein Mensch, sondern etwas größeres. Ein Haus vielleicht“, entgegnete Herrlich. „Hauptmann! Wann erreichen wir das Kloster der Franziskaner?“ „Hoffentlich mit Einbruch der Dunkelheit, Herr. Es liegt in Richtung der Rauchwolke“, rief der Hauptmann.
„Ihr seht, meine Freunde“, sagte Herrlich zu Rivère und Meister Figuera, „wir sind auf dem richtigen Weg.“
Reinhard rannte weiter, bis endlich zwischen Eichen und Fichten das Haus des Perfectus zu sehen war. Nie zuvor war es ihm mit den massiven Quadern so sehr wie eine Trutzburg vorgekommen.
„Meister Achert!“, rief er und trommelte mit den Fäusten gegen die eisenbeschlagene Tür. Der Perfectus öffnete.
„Du kommst gerade recht“, sagte er und wies Reinhard Schemel. „Rück ans Feuer, um dich zu trocknen. Ich habe mit dir zu reden.“
„Meister Achert…“, unterbrach ihn Reinhard.
„Still jetzt. Ich muss dich auf etwas Wichtiges vorbereiten.“
„Aber Meister Achert…“, versuchte es Reinhard noch einmal.
„Schweig, sage ich dir.“
Der Ton des Perfectus wurde schärfer. Aber Reinhard rief mit zitternder Stimme: „Ich habe den Zauber des ignis vitae versucht.“
Und dann brach es aus ihm hervor und er erzählte alles bis zum Schluss. Der Perfectus nickte schließlich stumm. Dann sagte er: „Nun gut, das ist nun nicht mehr zu ändern. Aber es gilt etwas anders zu bereden.“
„Aber wir sind in großer Gefahr!“
„Stimmt. Aber nicht wegen deiner Kindereien. Wenngleich sie noch mehr Menschen hier gegen uns aufbringen könnten. Die Gefahr droht uns von etwas anderem. Der Bischof schickt einen Inquisitor.“
„Großer Gott, dann werden sie uns alle foltern und verbrennen! Alle unsere Brüder und Schwestern werden auf dem Scheiterhaufen landen.“
„Ganz so dramatisch ist es nicht. Rom hat seine Strategie etwas verändert. Sie fürchten mittlerweile, dass zu viele Verbrennungen ihre eigenen irregeleiteten Schafe in zu große Unruhe versetzen könnte, und konzentrieren sich nun auf die Perfecti und ihre Vertrauten“, sagte der Perfectus mit einem beschwichtigenden Lächeln.
„Aber das seid Ihr und ich!“ Reinhard zitterte. „Dann bleibt uns nur der Hungertod, Meister, damit wir unsere Seele gereinigt in die nächste Stufe entlassen können und nicht unter den Händen der Sklaven Baphomets…“ Aber er kam nicht weiter. Der Perfectus, der mittlerweile auch für sich einen Schemel ans Feuer gezogen hatte, griff nach Reinhards Handgelenken und verdrehte sie über Kreuz, so dass dieser seinem Meister bewegungsunfähig in die Augen sah.
„Du darfst nun keine Angst mehr haben, Reinhard“, sagte er. „Deine Angst vor der Kraft hat deinen Zauber bei deinem Oheim in die Irre geleitet. Und wir werden nun gegen den Inquisitor einen noch größeren Zauber einsetzen. Beruhige dich. Fasse Mut!“
Und Reinhard wurde tatsächlich ruhiger. Schließlich fragte er leise: „Die Reiter?“
„Du bist ihnen begegnet? Ja, von ihnen weiß ich, dass der Bischof die Inquisition schickt.“
„Aber wer hat die Reiter geschickt, Meister?“
„Der Bischof.“
Reinhard verstand nichts mehr. Er lehnte sich zurück und spürte nur noch, wie ihn die Wärme des Feuers durchdrang.
„Warum warnt uns der Bischof?“, brachte er schließlich hervor.
„Du erinnerst dich an Perfectus Ries?“, fragte der Perfectus.
„Er wurde vor drei Jahren in Trier verbrannt“, antwortete Reinhard.
„So heißt es. Er wurde zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Ein Perfectus ist eingeweiht in die Höchste Macht. Es gelang ihm, den Bischof vor der Vollstreckung ein letztes Mal zu sehen. Und er machte ihn zu einem Vicarius Morituri. Zu einem Stellvertreter des Todgeweihten.“
Reinhard verstand nicht.
„Er tauschte ihre Hüllen. Wenn wir wirklich frei sind von Angst, Reinhard, sind wir zu allem fähig. Mit einer einfachen Formel gelang es Perfectus Ries, dass seine Seele und die des Bischofs die Körper wechselten. Der Bischof ging an seiner Statt in Flammen auf. Ein Körper ist nichts, Reinhard, wir dürfen keine Angst davor haben, ihn zu verlieren. Mit dieser Macht hätte Perfectus Ries sogar seinen verbrannten Körper wieder herstellen können. Aber er hat es vorgezogen, im Körper des Sünders zu bleiben. Um uns beistehen zu können. Und wir werden es machen wie er. Wir werden den Inquisitor selbst brennen lassen. Wir dürfen nur keine Angst haben. Bist du bereit, Reinhard?“
Reinhard schluckte. Schließlich nickte er.
Am Abend erreichte Herrlichs Tross den Grauen Berg. „Das Kloster hängt dort oben wie eine Fledermaus“, sagte Rivère. Sie mussten absteigen und den steilen Weg zu Fuß nehmen. Der Empfang war kühl. Herrlich hatte es nicht anders erwartet. Die Heilige Inquisition hatte niemand gern zu Gast. Noch dazu wachten Dominikaner wie Franziskaner stets eifersüchtig darüber, welchen Orden Rom gerade mit diesem wichtigen Amt betraute. Und unabhängig davon schadete es dem Ruf eines jeden Klosters, wenn in seiner Nähe Ketzer und Hexen überführt wurden. Während die Soldaten bei den Stallungen untergebracht wurden, führte der Abt, ein runzliger Greis, den Inquisitor, Rivère und Meister Figuera unendlich langsamen Schrittes ins Refektorium. Der Speisesaal war nasskalt.
„Euer später Besuch überrascht uns, Bruder Abelardus“, sagte er. „Brot und Käse lasse ich sofort bringen, doch falls ihr Suppe und Braten wünscht, bitte ich um Geduld, bis die Herdfeuer neu entfacht sind.“
„Wir danken für Eure Gastfreundschaft. Aber Brot und Käse sind mehr als genug“, antwortete Herrlich. Meister Figuera murrte, aber der Inquisitor brachte ihn mit strengem Blick zum Verstummen. „Wir sind als Krieger Christi nicht zum Schlemmen hier sonder, um eine Schlacht zu gewinnen. Das Volk Christi ist in Bedrängnis, Ehrwürden. Ihr werdet Euch unserem Kampf sicherlich anschließen, nehme ich an?“
Mit verkniffenem Mund antwortete der Abt, während zwei junge Mönche Wasser, trockenes Brot und harten Käse hereintrugen, bei deren Anblick Meister Figuera die Augen verdrehte: „Ihr seid uns hochwillkommen, Bruder Abelardus. Die jungen Brüder hier werden Euch Euer Lager zeigen. Gute Nacht.“
Er wandte sich zum Gehen. Herrlich griff zu einem Stück Käse. „Ein konkreter Hinweis, Ehrwürden, wäre mir lieber.“
„Ein Hinweis?“, fragte der Abt, ohne sich umzudrehen.
„Man spricht von Hexerei. Davon dass Katharer sich in diese Gegend geflüchtet haben.“
„Unser Kloster liegt sehr isoliert, wie Ihr gesehen habt.“
„Wir suchen ihren Anführer, ihren Perfectus. Bei wem treffen sie sich? Wer kann dafür in Frage kommen?“
Herrlich sprach fordernd.
„Ihr werdet mir Diener Gottes gestatten, das Vertrauen des Heiligen Vaters zu teilen, dass Ihr als Dominikaner angemessen in der Lage seid, selbst zu regeln, was Ihr zu regeln habt“, sagte der Abt.
„Der Inquisitor“, erwiderte Herrlich ruhig, während er eine Scheibe vom Käse schnitt, „vertritt den Heiligen Stuhl. Wer nicht mit ihm kooperiert, widersetzt sich dem Papst. Und wenn Euer Verstand nur halb so fest wäre, wie der Käse, den Ihr uns hier vorsetzen lasst, dann wüsstet Ihr, dass ich keine Sekunde zögern werde, Euch als Allersten in die Obhut der Instrumente meines Foltermeisters Figuera zu geben, Ehrwürden.“
Da endlich drehte sich der Abt um und kniff die Lippen zusammen.
„Dies ist die Formel“, sagte Perfectus Achert. „Aber dein Sinn muss frei von Angst sein, wenn du sie sprichst, Reinhard. Frei von Angst.“ Reinhard nickte. „Sis Vicarius Morituri. Sprich es nach.“
Und Reinhard sprach es nach. Du seiest der Stellvertreter des Todgeweihten.
Als der Abt gegangen war, hatten sie den Hinweis auf ein Steinhaus, zu dem ein Mönch die Garde am Morgen führen würde.
„Armer Abt“, sagte Rivère. „Sein ganzer Stolz dahin.“
Herrlich hatte jeglichen Kommentar zu Stolz und Sünde mit dem Käse runtergeschluckt. Aber es schmeckte bitter. In seiner Zelle betete er. Lange. „Herr, lass mich unermüdlich sein in der Erfüllung meiner Pflicht.“ Das Böse wütete ohne Unterlass. Und er, Inquisitor Abelardus Herrlich, kämpfte ganz vorn. Inbrünstig bat er Gott um ein Zeichen, dass sein Eifer frei wäre von Stolz und Eitelkeit. So oft hatte Gott ihm dieses Zeichen schon gewährt, so oft… Doch nichts. Bis er gegen Mitternacht etwas vor seiner Zellentür hörte. Er öffnete die Tür einen Spalt. Nur ein schwarzes Kätzchen, es huschte herein und umschmiegte seine Beine. Mit dem Fuß schob er es wieder hinaus. Herrlich mochte keine Katzen.
„Bruder Abélard!“
Herrlich schlug die Augen auf. Ihm schwindelte.
„Bruder Abélard!“
Er öffnete die Tür.
„Die Soldaten haben den Perfectus gefasst“, sagte Rivère. Sie eilten ins Skriptorium, wobei Herrlich den Eindruck nicht loswurde, dass die Katze sie verfolgte. Auf einem der Schreibpulte hatte Rivère die Pergamente für das Protokoll vorbereitet und von den Deckenbalken hing ein Flaschenzug mit Hand- und Fußschellen. Zwischen Daumenschrauben und Spanischem Bock saß Meister Figuera an einem Kohlebecken, in dem er eifrig Eisenzangen zum Glühen brachte. Auf einem Schemel kauerte ein altes Männchen. Die Kräfte Satans, das wusste Herrlich, trugen oft ein harmloses Gewand. Die Personalien waren schnell aufgenommen.
„Achert. Nennt Ihr Euch Perfectus Achert?“, fragte der Inquisitor.
„Was sollte ich an meinem alten, verfallenden Leib perfekt nennen, Herr?“, antwortete Achert.
„Gott erschuf uns immerhin nach SEINEM Angesicht“, warf Herrlich ein. Ein Fehler, das wusste er, er war nicht bei der Sache.
„So sagt man, Herr.“
„So sagt man? So steht es geschrieben! Wollt Ihr die Heilige Schrift anzweifeln?“, fuhr Herrlich auf.
„Die Heilige Schrift zweifle ich nicht an, Herr.“
Wieder ein Formfehler. Rivère stöhnte leise und sah von seiner Mitschrift auf. Noch nie hatte er erlebt, dass der Inquisitor schon nach dreißig Sekunden die Nerven verlor, noch dazu wo dieser alte Mann sich eindeutig der Dialektik der Ketzer bediente, die nur den Geist heiligten, für die der Körper nicht das Geschöpf Gottes war und somit das gesamte Alte Testament mit dem Schöpfungsbericht Teufelswerk. Für die Katharer war nur das Neue Testament eine heilige Schrift. Rivère sah, wie der Inquisitor in eine Ecke starrte. Auf eine schwarze Katze.
Ihre grünen Augen, fand Herrlich, schienen ihn zu sich zu ziehen. Sein Schwindelgefühl kehrte zurück.
„Nennt Ihr Euch Perfectus“, fragte Herrlich erneut.
„Ich nenne mich nicht Perfectus“, lautete die Antwort.
„Aber ihr werdet Perfectus genannt?“
Der Alte schwieg, und Rivère atmete erleichtert auf. Ein Führer der Ketzer würde nie lügen, es war offensichtlich, dass er auf eine rhetorisch gewandte Ausrede sann. Endlich war der Inquisitor auf dem richtigen Gleis!
„Wenn Ihr nicht antwortet, muss ich die Werkzeuge des Heiligen Stuhls anwenden lassen“, sagte Herrlich mit einer Handbewegung zu Meister Figuera.
„Euer Heiliger Stuhl ist nichts als eine stinkende Latrine“, sagte der Alte und lachte.
Meister Figuera sprang mit seiner Zange auf und rief: „Lasst mich diesem Ketzer seine Zunge zähmen, Herr!“
„Ruhe“, sagte Herrlich. „Die Folter dient nicht der Strafe sondern der Wahrheitsfindung. Nur die Flammen reinigen und strafen.“
Meister Figuera setzte sich widerwillig, der Alte lachte noch immer. Die Katze streckte sich. Herrlich beugte sich zum Alten hinunter: „Nennt man dich Perfectus?“
Der Alte sah ihn an und bewegte die Lippen. Herrlich beugte sich tiefer. Der Alte flüsterte: Sis Vicarius Morituri.
Sofort wurde alles um Herrlich schwarz. Er spürte nur einen Sog in seinem Innersten. Dann saß er auf dem Schemel vor sich selbst und sah sich Befehle erteilen: „Hängt ihn auf! Meister Figuera, die Zangen!“
Zwei Soldaten zerrten ihn vom Schemel, legten ihm die Fuß- und Handschellen an und zogen ihn hoch. Der Riss, der durch den Inquisitor ging, brannte wie Feuer. Meister Figuera hielt ihm die Zange vors Gesicht.
„Aber Bruder Abélard“, rief Rivère und winkte mit dem Federkiel.
„Schweigt“, herrschte ihn der vermeintliche Inquisitor an.
„Seht Ihr es denn nicht?“, brüllte Herrlich. „Der da ist Satan, er hat uns vertauscht!“
Aber seine Stimme war die des Perfectus Achert, und unter sich sah er Meister Figueras hasserfüllten Blick.
„Reißt ihm das ketzerische Auge heraus“, sagte sein Körper dort unten.
Und Meister Figuera tat nichts lieber als das. Das glühende Metall ließ sein Auge platzen, noch bevor es ihn berührte. Ein Ruck in seinem Kopf, dann rann eine brennend heiße Flüssigkeit seine Wange hinab.
„Nein“, schrie Rivère. „Das ist gegen alle Regeln!“
Jetzt erst zerriss Herrlich der Schmerz und er schrie markerschütternd. Doch mit dem verbliebenen Auge sah er alles. Wie Meister Figuera sein blutiges Auge in der Zange vor sich her trug. Wie die Katze voller Angst miaute und sprang, dass sie ein junger Mann namens Reinhard war, dass sie das Kohlebecken umriss, die Glut auf die Bücher des Skriptoriums stob, wie Rivère Meister Figuera die Zange mit dem Auge aus der Hand riss, seinen eigenen besessenen Körper dort unten niederschlug. Er sah die Flammen aufschlagen und alle Seelen, die er selbst je in den Flammen hatte verbrennen lassen, sah er. Sie bliesen und fachten das Feuer an. Er sah, wie sein Körper sich im Todeskampf wand, und dann sah er einen Tunnel, ein Licht, und sprang hinein.
Avatare, Roboter & andere Stellvertreter; Wendepunkt Verlag, Weiden 2010