Mein schwules Auge 7, konkursbuch Verlag, Tübingen 2010
Es war ein sonniger Tag. Der erste Tag im Jahr, an dem die Leute die Jacke, die sie morgens angezogen haben, ab dem Vormittag über die Schulter hängen und die Sonnenstrahlen durch ihr Hemd, an dem sie vielleicht die Krawatte lockern und einen Knopf öffnen, auf den Oberkörper lassen. Ein Tag, an dem die Nippel etwas sichtbarer hervorstechen.
Jeder kennt solche Tage. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es wirklich der erste warme Tag im Jahr ist; es ist ein Tag, der einem so vorkommt. Aus den Bäumen brechen die Blätter hervor, und wenn man in einem Café sitzt, fällt einem eine grasgrüne Raupe in den Schoß. Man schnippt sie sich von der Jeans, und dieses Schnippen geht durch den Schenkel, ziept kurz im Magen und versetzt einem einen kleinen Stich in die Nippel, so wie man sich das an den Nippeln der anderen vorstellt, die mit lockerem Schritt an einem vorübergehen, einem Schritt, den man sich heute genauer ansieht als noch an den kühleren Tagen zuvor.
An so einem Tag habe ich mich infiziert.
Und an einem ebensolchen Tag, viele Jahre zuvor, hatte ich auch meine erste Erektion. Als ich sieben war. Oder acht.
Im Stern, der bei uns zu Hause abonniert war, gab es ein Fotospezial zum Thema Polaroids und das damals neue SX-70-System. Ich begriff nicht vollständig, was ein Polaroid war, auch wenn meine Eltern leidenschaftlich darüber diskutierten, ob das nun die Zukunft der Fotografie wäre oder nur ein Rohrkrepierer.
Meine Zukunft lag auf dem Titelblatt jenes Sterns. Es zeigte eine wunderschöne, gut gekleidete Frau mit der faltbaren SX-70-Spiegelreflexkamera, die sie in der Hand, und mit einem Foto, das sie zwischen ihren kirschroten Lippen hielt: darauf ein Mann, aufgenommen in dem Ausschnitt zwischen Knien und Brust, der nichts weiter trug als Haut und Haar. Das Geschlecht bedeckte er mit seinen Händen, und es sah so aus, als habe er es fest im Griff. Den Stern durchblätterte ich damals regelmäßig, bis zur Kinderseite Sternchen im hinteren Viertel. Aber jetzt betrachtete ich nur das Titelblatt, verstohlen, denn es war ja klar, dass es verboten war. Weil es mich so merkwürdig erregte. Schließlich tat ich so, als würde ich die Sternchen-Seite suchen, und dabei durchsuchte ich doch nur die mit römischen Ziffern nummerierten Seiten des Fotospezials nach mehr von diesem Mann. Vergeblich. So viel männlicher Körper wie auf dem Titelblatt war im gesamten Heft nicht zu finden.
Ich ging ins Bad, ließ die Hose runter und legte die Hände über mein Geschlecht, genau wie dieser Mann, und betrachtete mich in der Abdeckung der Klopapierhalterung. Die war aus Metall und gewölbt und ließ meine Oberschenkel kräftiger aussehen. Im Polaroid lag eine Botschaft, das spürte ich, und ich wollte sie entschlüsseln. So griff ich zu, drückte, Hände über- und nebeneinander, bis er wuchs und endlich steif war. Meine erste Erektion.
Die Zeit verging mit neuen Folgen von Lemi und die Schmöker, den neuen Asterix-Heften und unzähligen Erektionen, Streichelungen, Berührungen, allein und mit meinen Cousins.
Und irgendwann kam ich. Aus Versehen. Da lag es auf meinem Bauch. Weiß, schleimig. Unheimlich. Aber ich war kein Angsthase, ich probierte es. Und es hat mir gut geschmeckt.
Entgegen dem, was man vermuten könnte, habe ich immer aufgepasst. Und es fiel mir auch nicht schwer. Ich war verliebt, lernte küssen, hatte Sex und sah Pornos – meist heterosexuelle, die waren zugänglicher – in denen Frauen keuchend stöhnten und die Schwänze, aus denen es in ihre Gesichter spritzte, sauber leckten; Bilder, die mich kurz erhitzten, ohne mir tief unter die Haut zu gehen.
Dann kam der erfahrene Mann, der mir mit gutem Zureden (ich bin ganz vorsichtig), erfahrenen Handlungsanweisungen (du musst gar nichts weiter tun als dich einfach zu entspannen), und vernünftigen Argumenten, denen ich mich nicht verschließen konnte (komm schon, deswegen bist du doch mitgekommen) die bis dahin unbekannten Muskeln tief in meinem Inneren näher brachte.
Im Grunde aber musste ich gar nicht aufpassen. Ich befolgte ja nur einfache Regeln. Wie die, dass man nicht in Steckdosen fasst, sich nicht in der Badewanne fönt und nicht einschläft, solange die Kerzen auf dem Nachttisch noch brennen.
So stand ich im zarten Alter von Mitte zwanzig in einer Kaschemme am Eingang zum Darkroom, mit dem x-ten Bier in der Hand gegen die Wand gelehnt. Von der Wand neben dem Tresen flackerten Pornos und ich begutachtete den Testosteronspiegel derer, die im Dunkel verschwanden, immer auf dem Sprung. Doch plötzlich erregte ein Film meine Aufmerksamkeit: zwei Typen, die aussahen, als hätten sie sich im Studio 54 aufgegabelt, zogen sich Hemden mit langen Kragen und enge Jeans mit weitem Schlag aus, holten aus dem Küchenschrank zwei flache schwarze Teller und stellten sie auf den Tisch. Einige Einstellungen waren unscharf, alle waren rot- und blaustichig, wie alte Polaroids, die man längst in irgendeiner Schublade vergessen hat. Ich konnte nicht mehr davon lassen. Die beiden rammelten sich unter den Hängeschränken, um die Kaffeemaschine, über dem Spülbecken, gegen den mannshohen amerikanischen Kühlschrank. Als ihre Zeit gekommen war, stellten sie sich einander gegenüber an den Tisch, wichsten und spritzten schließlich, ohne dass ein Tropfen daneben ging, ihre geballten Ladungen jeder auf einen Teller, appetitlich angerichtet, weiß auf schwarzem Porzellan. Und dann tauschten sie die Teller aus und leckten sie langsam ab.
Ich leckte mit. Jeden Tropfen ließ ich tief durch meine Kehle rinnen. Und in den folgenden Jahren tat ich es immer wieder; erst nur, wenn ich Sex hatte, egal wie, mit wem und wo, später auch immer, wenn mir jemand nur über den Weg lief, auf den ich abfuhr: in Gedanken leckte ich jeden Tropfen, den er auf die Laken, auf seinen oder meinen Körper, auf das Email der Badewanne spritzte, jeden Tropfen, der noch an seiner Eichel hing, langsam auf.
Seit dieser Nacht musste ich aufpassen. Denn seitdem spürte ich einen Drang, von dem ich lernen musste, ihn zu unterdrücken.
Es war 2001, im Frühjahr. An einem langen freien Tag, den ich für mich allein hatte, weil mein Freund verreist war. Morgens meditierte ich, war aber unruhig. Vormittags schlich ich ums Telefon. Griff aber doch nicht zum Hörer. Dann gab ich mir einen Ruck und ging hinaus.
Es war der erste warme Tag im Jahr.
Die Leute waren leicht bekleidet, wer eine Jacke dabei hatte, trug sie über die Schulter und im Sonnenschein stachen die Nippel der Männer etwas deutlicher als sonst hervor. Ich setzte mich in ein Straßencafé, bestellte einen Cappuccino und holte ein Buch hervor – ich habe immer ein Buch dabei – und begann zu lesen. Dabei wartete ich darauf, dass sich aus dem frischen Grün der Bäume die Raupe auf meinen Schoß fallen lassen würde, damit ich sie von meinem Schenkel schnippen könnte. Das tat sie aber nicht. Stattdessen sah ich den vorübergehenden Männern auf den Schritt. Es schoss aus ihren Eicheln wie die Triebe aus den Zweigen, und in dem wunderschönen Roman von Murakami in meiner Hand konnte ich keinem einzigen Satz folgen. Stattdessen leckte ich jeden Tropfen.
Schließlich schlug ich das Buch zu, ging nach Hause und schlich wieder ums Telefon.
Es war die Zeit der Dating Lines Ich griff zum Hörer, wählte und hatte schnell eine Verabredung für den Abend.
Ich sollte Bier mitbringen, weil er pissen wollte, ich sollte ihn ficken, und vielleicht wollte noch ein Freund von ihm kommen. Ich war mit allem einverstanden und dachte doch an nichts anders als an die schwarzen Teller, die ich ablecken wollte, und nie ablecken durfte.
Ich nahm die S-Bahn und kaufte zwei Sixpacks im Edeka in seiner Straße. Als ich vor seiner Haustür stand, zögerte ich. Die Abendsonne schien mir ins Gesicht. Sie sah so schön rot aus. Ich könnte einen Spaziergang machen, dachte ich noch. Aber dann sah ich auf die Bierdosen in meiner Hand und ging in den Hausflur.
Er war groß, schlank und nackt.
Ich hatte gedacht, dass wir sofort übereinander herfallen würden, doch stattdessen plauderte er auf mich ein und führte mich in den hell erleuchteten, quadratischen Flur. Dort setzte ich mich auf einen Stuhl und zog meine Schuhe aus. Dieser Stuhl war aus Pappe, es gab mehrere davon, aus dunklen und hellen gepressten Papplagen.
Er sah nicht unsympathisch aus, wie er an die Wand gelehnt stand, die Lippen bewegte und sich dabei über den Schwanz strich.
Mitten im Flur stand ein riesiger Tisch, auf dem ein Durcheinander von Papieren herrschte. Je länger ich hinsah, desto mehr Pappschachteln, Plastikröhrchen und Gläschen sah ich aus der Papierflut auftauchen, Tablettenverpackungen aller Art, eine Batterie von Medikamenten, die ich nicht kannte. Ich dachte: Hat er HIV? Vielleicht hat er HIV. Dann war ich mir sicher, dass er HIV hatte.
Ich zog die Jacke aus.
„Kannst du morgen ausschlafen?“, fragte er.
„Ja“, sagte ich und schob die Bierdosen in die Unordnung auf dem Tisch. Er erzählte von gefühlvollen Kolleginnen, die rücksichtsvoll damit umgehen würden, wenn er morgen nicht fit war.
„Schluckst du?“, fragte er, öffnete zwei Dosen, reichte mir eine, wir prosteten uns zu.
„Mein eigenes schon“, gab ich zurück und versuchte zu grinsen.
„Lecker“, sagte er und wischte sich Bier vom Mund.
Die Deckenlampe warf ein grelles Licht auf die Medikamente, aber ich sah nur, wie wir uns küssten, stöhnten und uns tiefe Stöße versetzten. Und saß regungslos da. Irgendwie schaffte es die Abenddämmerung aber doch noch in den fensterlosen Flur, die Erinnerung daran, wie schön die Welt draußen jetzt sein musste, in Rot getaucht. Draußen war das Leben schön, und hier standen Medikamente. Ich saß wie betäubt ohne Schuhe und Jacke auf dem Pappstuhl und mein halbsteifer Schwanz drückte gegen meine frisch rasierten Eier. Und hatte zugleich Angst.
Ich war seiner Stimme am Telefon gefolgt, hatte Bier gekauft, wollte trinken, pissen, ficken, ihn küssen, hatte eben noch in den Sonnenstrahlen draußen das pralle Leben gespürt, prall wie mein Arsch, meine Schenkel und Lippen.
Der Abendhimmel drang zwar weiter vor, aber alles, was ihm gelang, war, meinen Phantasien einen Rotstich zu versetzen, von dem zwei-, dreimaligem Spermaschwall, den dieser Mann und ich abspritzten. Auf die Pappstühle. Es rann zäh und langsam über die hellen und dunklen Pappschichten. Und wir leckten es, die Stuhlbeine hinauf, über die Sitzflächen, die Lehnen hinab. Lecker!
„Ich muss mal ins Bad“, sagte er und verschwand.
Da saß ich, allein, in einem Flur voller Bierdosen, Pappstühle, Medikamente und ohne Fenster.
Geh jetzt, sagte ich zu mir. Ich hörte es ganz deutlich: Geh jetzt.
Ich hätte Schuhe und Jacke anziehen und gleich gehen können. Ich hätte Schuhe und Jacke anziehen, mich, sobald er aus dem Bad zurückkam, von ihm verabschieden und dann gehen können. Stattdessen blieb ich auf dem Pappstuhl sitzen.
Schluckst du?
Nein!
Er kam aus dem Bad und fragte: „Gehen wir nach nebenan?“
Und wortlos ging ich mit ihm nach nebenan.