Oder so

Knapp achtundvierzig Stunden nach der Katastrophe. Die Pressekonferenz des Staatsanwalts in Marseille steht noch bevor. Ich sitze zu Hause. 

Wenn etwas Unfassbares geschehen ist, tun wir manchmal, was uns von Kindheit an vertraut ist. Deshalb höre ich Radio, sehe nicht fern, lese keine Zeitung, sondern verfolge alles nur im Radio.

Das Radio berichtet ununterbrochen. Es repetiert die wenigen gesicherten Fakten und dann, in einer nicht abebbenden Welle, jede Mutmaßung, die es nur gibt. Ob sie Sinn macht oder nicht. Und es sendet Stimmen, erregte Stimmen, betroffene Stimmen, erschütterte. Es holt ganz weit aus, geht ganz nah ran, fängt alle ein und schiebt sie in mein Zimmer. In meine Ohren. Das Fürchterliche, vor zwei Tagen am Südrand der Alpen geschehen, hat im Radio noch lange nicht aufgehört und ereignet sich dort immer wieder. Ich kann es kaum noch aushalten.

Aber ich kann es auch nicht ausschalten.

Genauer gesagt: Ich schaffe es nicht, die Beschallung länger als drei Minuten ausgeschaltet zu lassen. Denn kaum verstummen die, die etwas gesehen haben, die meinen, sie wüssten etwas, die behaupten, sie hätten sich Gedanken gemacht, die nicht endenden Beschreibungen, die zahllosen Geräusche, kaum dass endlich Lautlosigkeit in meinen vier Wänden herrscht, die vom Ort des nicht Fassbaren weit entfernt sind, kommen die Dämonen heran: meine eigenen Bilder. Und die auszuhalten, ist noch schwieriger.

Nach fast zwanzig Jahren als Flugbegleiter, kenne ich diesen Flugzeugtyp in und auswendig. Ich weiß, wie es darinnen aussieht. Ich meinte, alles dort gesehen zu haben. Meinte ich. Aber diese Bilder sind neu, die Abbilder dessen, worüber sie reden, und das was mein Kopf daraus macht.

Das ist mein Arbeitsplatz, dort bin ich tagaus, tagein, wie man so sagt.

Doch was man so sagt, versagt gerade seinen Sinn. Deswegen versuche ich zu fliehen, wo Flucht doch unmöglich ist. Hinaus unter einen weiten Himmel, vorbei an Flaggen auf Halbmast am Rathaus, hinein ins anonyme Getriebe eines Cafés.

Tassen klirren, die Kaffeemaschine brummt auf Hochtouren, Stimmen raunen durcheinander. Ich bestelle einen Espresso, lehne mich wartend an den Tresen und höre Fetzen der Unterhaltung neben mir.

„Ich bin der festen Überzeugung…“, sagt einer.

„Da kann mir einer sagen, was er will…“, ein anderer.

Und die Satzenden füllen sie aus mit den unzähligen Variationen dessen, was sie seit Tagen hören. Ebenso wenig wie ich waren sie dabei, ebenso wenig wie ich kennen sie jemanden, der dabei war. Scheinbar wollen sie hier, mit Croissants in der Hand, das was noch unklar ist, dingfest machen. Aber sicher bin ich mir da nicht. Spüre nur wieder eine innere Unruhe. Ein Gedanke taucht auf. Ihr, denke ich, werdet in drei oder vier Wochen alles wieder vergessen haben.

„Anders kann ich mir das nicht vorstellen“, sagt wieder der eine.

„Einen Notruf abgesetzt hätte man doch. Mayday, Mayday“, wieder der andere. Er schüttelt den Kopf, zückt sein Portemonnaie aus der Jackentasche, und dann fügt er noch etwas hinzu: „Oder so. Zahlen bitte!“

„Drei Euro zwanzig.“

Und er reicht eine Fünf-Euro-Note über den Tresen, deutlich zu sehen ist die graue, antike Brücke. Oder das Aquädukt. Oder so.

Ich nehme meine Tasse und setze mich auf einen Barhocker am Fenster.

„Notruf“ ist eines der strapazierten Worte dieser Tage, immer wieder im Wortlaut, oder so, kolportiert, obwohl es ihn gar nicht gegeben hat; wie auch die Binsenweisheit, dass Spekulationen sich verbieten. Eine nutzlose Ermahnung, da niemand sich das Spekulieren versagt, obwohl so viele es sich verbitten. Doch zu bitten reicht nicht. Der Trieb, seinen eigenen Gedanken Ausdruck zu verleihen, kennt kein Pardon. Dieser Trieb rattert, lässt sprechen, projiziert Bilder in die Hirnrinden. Und er wird gnadenlos forciert.

Um sich das Unvorstellbare vorzustellen.

Und da liegt mein Problem:

Dies ist mein Arbeitsplatz, tagaus, tagein. 

Kann ich mir vorstellen, wie es aussah?

Ich stelle es mir bereits vor.

Kann ich mir vorstellen, was zu hören war?

Ich kämpfe zwar dagegen an, aber – ja.

Was zu riechen war?

Ich habe den Geruch in der Nase.

Meine Sinne sind dort und werden wieder dort sein. 

Ich kann nicht einfach zahlen und meiner Wege gehen, um es hinter mir zu lassen, nicht einfach das Radio ausschalten oder den Fernsehsender wechseln. Dafür war ich zu oft dort, und ich muss wieder dorthin.

Ich trinke den Kaffee und ziehe einen Fünfer hervor. Der einzige Geldschein, der zeigt, wohin die Brücke auf seiner Rückseite führt: in eine Hügellandschaft. Hoffentlich herrscht dort Stille. 


erschienen im April 2015 in der Online-Plattform krautreporter